Wir kaufen nix!

04. September 2014

 

Vergesst Veganer, Vegetarierer, Frutarier! Es gibt einen neuen Stern am Öko-Himmel: den Freeganer! Er fischt im Müll, setzt Samen in die Natur ein und tauscht überflüssiges Essen. Ein Zeichen gegen die Wegwerfgesellschaft.

 

Von Olivia Mrzyglod und Susanne Einzenberger (Fotos)

 

WOLFGANG HAT HUNGER. Er schaut in den Kühlschrank. Leer. Jeder von uns würde an dieser Stelle zum Supermarkt laufen oder Giovannis Pizzeria anrufen. Wolfgang geht aber hinaus und sammelt Müll. Dabei ist der Wiener weder obdachlos noch pleite. Wolfgang ist Freeganer!

Wer jetzt glaubt Freeganer seien alles Sonderlinge, tragen lange Haare und stinken nach Müll, der irrt. Größtenteils sind es Studenten und Intellektuelle, die sich bewusst für den Null- Konsum entscheiden. Da es keine klar definierten Parameter für Freeganer gibt, liegen uns keine offiziellen Zahlen vor. Laut der Community ziehen tausende Konsumverweigerer wöchentlich von Hinterhof zu Hinterhof. Ihr Ziel: Die von Supermärkten entsorgten Produkte herausfischen und verwerten. Mit dieser kulinarischen Eigenart kehren sie der Konsumgier und Ersten-Welt-Verschwendung den Rücken. Dabei gilt immer die Regel, möglichst wenig einzukaufen.

 

Glücklich ohne Geld

Bei Wolfgang zu Hause bekomme ich türkischen Kaffee und Kuchen serviert. Sehr lecker und seit Monaten abgelaufen, wie ich später erfahre. Seit er denken kann, lebt Wolfgang „freegan“, ohne diesen Begriff überhaupt zu kennen. Schon als Kind versuchte er keinen unnötigen Müll zu produzieren. Fast alles in seiner Wohnung ist selbstgemacht, getauscht, oder „gedumpstert“.  Einmal pro Woche taucht er dabei in Müllcontainern von großen Supermarktketten. „Da ich immer mehr finde, als ich essen kann, reicht das vollkommen“, erklärt er mit einem satten Lächeln.

„Es gibt Monate, da brauche ich gar kein Geld“ schmunzelt er und präsentiert uns seine Geldbörse. Obwohl Geldbörse für diesen winzigen, selbstgebastelten Beutel aus Leder keine passende Beschreibung ist. Etwas, das einst ein Wattestäbchen war und nun als Zahnstocher dient, fällt neben einem 20€- Schein heraus „Ich wusste nicht einmal, wie viel da drinnen ist“, behauptet er.

Ganz ohne Supermarktbesuch kommt selbst Wolfgang nicht aus. „Ich gehe einkaufen, wenn ich etwas brauche. Das passiert mir jedoch selten, ich habe gelernt genügsam zu leben“. Auf seiner letzten Einkaufs- liste standen Gummizüge, um seine ausgeleierten Unterhosen zu flicken und Stirntaschenlampen für die nächtlichen Shopping-Touren. „Wolf “, wie ihn seine Freunde nennen, boykottiert das kapitalistische Modell. „Ein freeganes Hotel zu eröffnen“, das sei allerdings sein Traum – „ohne Geld damit zu verdienen“, wie er beteuert. 

 

Leben im Überfluss

Die Lebensmittel - Produktion wird schon lange nicht mehr von unserem Bedarf gesteuert. Die zahlungskräftige Nachfrage ist der neue Maßstab. Es wird erwartet, dass alles jederzeit zugänglich ist und diese Strategie führt zwangsläufig zu Überproduktion. Allein die Hälfte (!) der in Europa weggeschmissenen Lebensmittel könnte alle Hungernden dieser Welt ernähren. Laut Untersuchungen der BOKU Wien, werfen Supermärkte täglich 45kg genießbare Lebensmittel in den Müll. Diese Zahl klingt so absurd, dass ich mich selbst davon überzeugen wollte. Also ging ich mülltauchen oder „dumpstern“, wie man das Absuchen von Müllcontainern nach Essbarem unter Insidern bezeichnet.

 

Trüffelrisotto aus der Tonne

Früher Abend im 8. Bezirk. Hier treffe ich Sarah, eine Psychologie-Studentin und geübte Dumpsterin. Ein bis zwei Mal die Woche geht sie, mit Desinfektionsmittel und Einkaufstasche bewaffnet, von Geschäft zu Geschäft und rettet Lebensmittel. „Seid bitte leise und erschreckt euch nicht vor dem Gestank!“ warnt sie mich, bevor wir uns auf die Suche begeben.

Mithilfe eines Schlüssels, dessen Herkunft ein Geheimnis innerhalb der Community bleibt, öffnet sie das Tor zum Hinterhof. Bei einer weiteren Tür ist Endstation. „Sie haben das Schloss ausgetauscht! Verdammt, das war mein Lieblings- Billa“, ärgert sich Sarah „Hier gab es immer Gebäck im Überfluss.“

Beim nächsten Geschäft haben wir mehr Glück. Drei Mülltonnen sind bis oben mit Obst und Gemüse vollgestopft. Bei den meisten Produkten erkennt man auf den ersten Blick keinen Makel. Als wir uns die Topfengolatsche näher ansehen, bemerken wir das fehlende Etikett. Aus kosmetischen Gründen landen diese Produkte im Müll. Warum sollte man auch den Apfel mit der Druckstelle nehmen, wenn man den perfekten haben kann? So denken viele Konsumenten. Es ist nur Müll, weil es jemand weggeworfen hat. Es gibt nichts, das diese Produkte sonst als Müll charakterisiert. Ich fange langsam an, wie ein Freeganer zu ticken.

Sarah ist wählerisch, sie begutachtet vieles und legt es desinteressiert wieder beiseite. „Es gibt so viel, man muss nicht alles nehmen. Heute will ich etwas für mein Frühstück finden.“ Nach 15 Minuten hat Sarah genug für uns beide gefunden. Das Highlight: Eine ganze Packung Minispargel, bei dem ich den Grund für die Beseitigung nicht erahnen kann und drei Packungen Edel-Trüffelrisotto. Das Risotto ist dreifach verpackt, noch Monate haltbar und weist auf der äußersten Schicht Dellen auf. Sarah schlemmt am nächsten Tag ihr Frühstück und ich gönne mir zum ersten Mal den Luxus von vorzüglichen Trüffeln. Das alles direkt aus dem Müll!

 

Das Essen liegt auf der Strasse

„Die Stadt ist mein Garten“ so Peter Krobath, freier Journalist. Krobath schreibt unter anderem für den „Standard“ und das „Universum“- Ma- gazin. Wenn man ihn jedoch mit Gartenhandschuhen halb versunken in einem öffentlichen Gestrüpp vor dem Praterstadion antrifft, könnte man ihn mit einem verwirrten Obdachlosen verwechseln. „Hier gibt es guten Holler, den brauche ich für meinen Likör“ erklärt er uns. Krobath nennt sich selbst „urbaner Selbstversorger“ und ist stets auf der Suche nach Obst und Beeren. Die Initiative „STADTFRUCHT“, in der er ungenützte Stadtfrüchte ins Licht der öffentlichen Wahrnehmung rückt, unterstreicht sein Engagement. Wer einen erntefreudigen Baum oder Gestrüpp gefunden hat, postet diesen auf die /stadtfruchtwien.word- press.com- Homepage. „Warum sollte ich Obst oder Gemüse kaufen, wenn die Tomate vor meiner Haustüre liegt?“ Klingt logisch. Übrigens: Für Anfänger organisiert der freie Journalist auch Ernte-Touren. Wer sich als Farmer versuchen will, findet Informationen unter stadtfrucht. wordpress.at.

 

„Nicht stopfen bitte!“

Nicht selten finden Freeganer mehr, als sie essen können. Der moderne Freeganer kommuniziert über Internetplattformen wie myfoodsha- ring.org mit der Community. Die Idee des Essen-Teilens kommt aus Deutschland. Die Devise lautet: „Lebensmittel teilen, statt wegwerfen.“

Nutzer stellen überschüssige Lebensmittel in Form von Essenskörben online und warten auf hungrige Interessenten. Meistens dauert es keine zehn Minuten bis jemand den Korb reserviert. Wer sich jetzt denkt: „Gratis- Essen? Geil! Nichts wie hin.“, der wird enttäuscht. Ohne Foodsharer- Ausweis mit Lichtbild geht erstmals gar nichts.

Neben dem Verschenken kann man auch zusammen kochen, um die Zutaten zu sparen. Foodsharing findet nicht nur hinter verschlossenen Türen und in dunklen Gassen statt. Im August gab es in Wien einen großen Event, bei dem sich die Community austauschte. Es wurde diskutiert, Filme geschaut und natürlich gegessen. Alles gratis, versteht sich. So einladend das klingt, ein ungeschriebenes Gesetz gibt es doch: „Nicht stopfen, bitte!“

 

 

Freeganer ABC

Freegan ist eine Wortkombination aus „free“ und „vegan“. Freeganer versuchen nichts zu kaufen. Um an Lebensmittel zu kommen gehen sie alternative Wege. So wollen sie auf die Lebensmittelverschwendung aufmerksam machen.  Für Freeganer ist Fleisch kein Tabu! Die Prämisse, keine Rohstoffe zu verschwenden, steht über dem Veganismus.

Wie?

Mülltauchen/ Dumpster Diving/Containern:
Genießbare Lebensmittel aus der Mülltonne holen. Oft wird der Fund anschließend in der Gruppe gekocht. Rechtlich gesehen befindet sich das Dumpstern in einer Grauzone.

Guerilla Gardening/Urban Gardening
Freeganer nutzen auch öffentliche Wiener Grünflächen, um Saatgut auszustreuen. Auch Pflanzen, Sträucher und Bäume in Gemeindebesitz werden geerntet.

Teilen, Tauschen, Schenken:

Wer zu viele Lebensmittel eingekauft, oder gedumpstert hat, kann diese auch über Plattformen wie myfoodsharer.at anbieten. Auch zwei Umsonst-Läden in Wien bieten die Möglichkeit, überschüssige Produkte an andere weiterzugeben.

Wie viele?

Freeganer sind gut organisiert und vernetzt. Da das Ausmaß der Selbstversorgung bei jedem Freeganer unterschiedlich ist, gibt es keine genauen Zahlen. Neben Gelegenheitsmüll- tauchern, die ab und zu ihren Speiseplan mit geretteten Lebensmitteln verfeinern, gibt es radikale Selbstversorger, die seit Monaten kein Geld mehr gesehen haben. Wirft man alle in einen Topf, sind es mehrere 1000 in Wien.

 

 

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