Bitte öffnet endlich die Grenzen

27. August 2015

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Alexandra Stanic
by Marko Mestrovic

Plötzlich sind mir Tränen in die Augen geschossen. Auf einmal, wie aus dem Nichts. Passanten haben mich komisch angesehen, weil ich rot angelaufen bin. Es war mir schrecklich peinlich, ich bin nicht der Typ, der in der Öffentlichkeit weint. In den ersten Minuten hatte ich keine Ahnung, was in mir vorgeht.

Bis ich es realisiert habe. Es ist dieses mulmige Gefühl, das mich seit Wochen begleitet. Nachts, wenn ich mich schlafen lege, ist es da. Morgens, sobald ich die Augen öffne, fühle ich diesen Kloß im Hals. Es sind diese mich plagenden Gedanken, die ich nicht ausblenden kann. Sie begleiten mich rund um die Uhr - Tag ein, Tag aus. Es fühlt sich so an, als läge etwas in der Luft, das mir die Kraft raubt, das mich weinen lässt und mir den Atem raubt.

Ich sehe sie immer vor mir. Immer wieder sehe ich Tausende von Menschen, die so viele Strapazen auf sich nehmen, um sich und ihre Familie in Sicherheit zu bringen. Ich denke an all die Verstorbenen. An alle, die im Mittelmeer ertrunken sind, deren ausgelöschtes Leben von manch einem schon wieder vergessen wurde. Ich spiele in meinem Kopf Bilder von Kindern ab, denen ich in Traiskrichen in die Augen geblickt habe, die mich so herzlich angelacht haben, als hätten sie noch keine traumatisierende Erfahrung gemacht. Ich denke an all die lieben Menschen, die ich in Traiskirchen kennengelernt habe und es bricht mir einfach das Herz.

Als ich gestern die Nachricht gelesen habe, dass bis zu 50 Menschen qualvoll gestorben sind, hat es mir tief drinnen einen Stich versetzt. Jetzt, wo ich weiß, dass es 71 ist, geht es mir noch schlechter. 59 Männer, acht Frauen, vier Kinder. Menschen auf der Flucht müssen sich hier, in unserem sicheren Österrreich, einem tödlichen Risiko aussetzen. Die Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Europa sterben, sind in Österreich angekommen - auf der A4, auf der ich selbst schon so oft gefahren bin. Da ist er nun, ein Lastwagen voller Leichen. Der Kloß in meinem Hals wird immer größer. Heute Nacht werde ich nicht nur an die Hamoudi, Khalil und Sami in Traiskirchen denken. Ich werde nicht nur überlegen, was für ein Leben sie hätten führen und welchen Weg sie hätten einschlagen können. Ich werde nicht grübeln, wie ich ihnen schnellstmöglich Deutsch beibringen kann und woher ich Rollschuhe für sie auftreibe.

Ich werde nachts an all die Opfer denken, die heute auf einer österreichischen Autobahn gefunden wurden. Ich werde an ihr Schicksal denken und kein Auge zumachen. Und ich hoffe, dass es allen Verantwortlichen so gehen wird. Es ist liegt nicht in meiner Macht, die Grenzen zu öffnen, Menschenleben zu retten. Deswegen bitte ich die, die es können: Öffnet die Grenzen. Lasst keine Menschen mehr sterben. 

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