„Dede, erzähl mal, wie war es damals als Gastarbeiter?“

01. Mai 2023

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Foto: unsplash/museumsvictoria

„Seit 52 Jahren bin ich hier, das einzige, das sich hier nicht verändert hat, ist die Natur. Hey gidi günler hey (übersetzt: das waren noch Zeiten), ich erinnere mich noch an den ersten Tag, an dem ich in Österreich ankam.“ Vor ein paar Tagen saß ich mit meinem 84-jährigen Großvater im Zug von Niederösterreich nach Wien, als er plötzlich von sich aus begann, mir über seine Anfangszeit als Gastarbeiter in Österreich zu erzählen. Wir haben nie viel darüber gesprochen, obwohl es immer Teil unserer Familiengeschichte war. Unzählige Fragen schießen mir in den Kopf. Aber ich lasse Dede (türkisch für Opa) erstmal erzählen.

„Aber Dede, wie habt ihr euch verständigt?“

In seiner Heimatstadt Dersim, heute Tunceli, in der Türkei gab es Agenturen für Arbeit, die bekannt gaben, dass einige Länder in Europa Arbeiter suchten. „Nachdem ich einen positiven Bescheid bekam, wurde ich zu den offiziellen Stellen des Landes eingeladen, wie viele andere auch. Dort wurden wir auf Arbeitstauglichkeit getestet. Wenn alles in Ordnung war, wurde uns nachher mitgeteilt in welches Land wir arbeiten gehen, was unsere Arbeit sein wird, wo wir schlafen werden und wie viel wir bekommen“ erzählt er mir und wirft einen Blick aus dem Fenster. Seine erste Reise ging nach Paris. Dort arbeitete er sechs Monate lang, danach kam er zurück in die Türkei und verpasste die erneute Anmeldefrist für Frankreich. Schicksal, könnte man sagen. Denn dadurch fand Opa seinen Weg nach Österreich. Er meldete sich erneut bei der Arbeitsmarktstelle für Auslandsarbeiter und dieses Mal entschieden sie, dass seine Reise nach Österreich geht. „Ich hatte nur einen Handkoffer gepackt mit den notwendigsten Klamotten, verabschiedete mich von deiner Oma und den Kindern und machte mich auf den Weg nach Istanbul. Angekommen in der Metropole, lernte ich meine 40 Weggefährten kennen und danach ging für uns die Reise nach Österreich los.“ erklärt mir Opa. „Aber Dede, wo habt ihr geschlafen und wie habt ihr euch in der Arbeit verständigt, wenn ihr kein Deutsch konntet?“ frage ich neugierig nach. 

Opa sah den ausbeuterischen Aspekt dahinter leider gar nicht

Meinem Opa und den anderen Arbeitern wurde eine kleine Unterkunft zur Verfügung gestellt, in der vier oder fünf Personen sich den Unterschlupf teilen mussten. Platz gab es daher nicht sonderlich viel. Dennoch genoss Dede die Anwesenheit seiner Weggefährten sehr, denn sie waren die einzigen mit denen er sich auf türkisch oder kurdisch unterhalten und Cay trinken konnte. Deutsch konnten sie alle nicht, daher war es anfangs eine riesige Herausforderung. In einer erfundenen Zeichensprache versuchte man Arbeitern zu erklären, was zu tun ist. Mein Großvater begann wie viele andere Arbeiter in einer Edelstahlrohr Firma in Niederösterreich zu arbeiten. „Nachdem wir die Einschulungsphase hinter uns hatten, wurden wir von den Chefs genau unter die Lupe genommen. Eines Tages wurde ins Büro gerufen und wurde von meinem Chef gelobt, weil ich 90 Rohre schaffte, während der Österreicher neben mir nur 60 schaffte.“ erzählt Opa humorvoll und lacht dabei. Die Firma teilte ihm danach mit, dass sie ihn behalten wollen. Ich lasse es mir nicht anmerken, weil er beim Erzählen so viel Spaß hatte, aber innerlich versinke ich in meinen Gedanken. Natürlich wurde er dafür gelobt, weil er mehr geleistet hat, als seine österreichischen Kollegen, die für das gleiche Geld gearbeitet haben. Opa sah den ausbeuterischen Aspekt dahinter leider gar nicht. Diese Menschen kamen nicht zum Spaß in ein fremdes Land, sie kamen weil sie auf dieses Geld angewiesen waren. Und weil sie dieses Geld so sehr brauchten, waren sie sich den Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz teilweise gar nicht bewusst oder blendeten diese einfach aus. Denn schließlich waren sie nur als „Gast“ in diesem Land. 

„Was hast du dir mit deinem ersparten Geld gekauft, Dede?“ möchte ich wissen. Er erzählt mir mit einem strahlen in den Augen, dass er sich damit ein Grundstück in seiner Heimat kaufen konnte. Eine Absicherung für seine Zukunft also. Mit dem restlichen Anteil seiner ersten Ersparnisse versorgte er meine Oma, meine Mama und ihre Geschwister. So humorvoll mein Opa auch ist und seine Geschichten immer am lustigsten an uns weiterträgt, steckt immer ein gewisser Trübsinn dahinter. Er wirft einen Blick in die Ferne, atmet tief ein und sagt: „Auch wenn sie uns hier nicht immer wollten, auch wenn ich aus Dersim komme, ist Österreich trotzdem meine Heimat. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich ja in Österreich verbracht.“. 

Diese Menschen waren nie ein Fehler

Ich denke an die Worte von Bundeskanzler Karl Nehammer, der vor nicht allzu langer Zeit Gastarbeiter als Fehler bezeichnete. Es macht mich wütend. Es macht mich deshalb so wütend, weil mein Opa einer von vielen Gastarbeitern ist, die ihr ganzes Leben aufgeschoben haben. Sie haben ihr Leben, ihre besten Jahre schwer arbeitend in kleinen Wohnungen verbracht. Sie haben alle viel und mühselig gearbeitet, fern von ihren Liebsten gewohnt, damit sie ihre Familie versorgen können. Für viele dieser Menschen wurde der Ort, an denen sie zunächst als Gast waren, ein neues zu Hause, eine neue Heimat. Viele verbrachten ihr Leben damit zwischen den zwei Heimaten zu pendeln, genau wie mein Opa. Er konnte sich weder von der Türkei, noch von Österreich trennen. Sich darüber bewusst zu werden, was das bedeutet, dafür fehlte ihnen einfach die Zeit – man dachte stets an die Arbeit. Nostalgie passte nicht in ihre Lebensrealität, dafür war kein Platz. Erst jetzt, als Dede längst in Pension ist, höre ich diese Geschichten. 

Diese Menschen sind und waren nie ein Fehler – der einzige Fehler ist die fehlende Wertschätzung ihnen gegenüber. Immerhin haben Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen stark dazu beigetragen, dass wir in Österreich so aufwachsen können, wie wir es gewohnt sind. Und dafür gebührt ihnen unser aller Dank. Ihr seid keine Gäste, ihr seid ein wesentlicher Teil dieses Landes. Danke Dede, und danke an all die anderen, deren Arbeit nie genug gesehen und geschätzt wurde – dieser Tag, der erste Mai, gehört euch.

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