Ex-Wiener Sängerknabe: „Es war deprimierend der einzige mit türkischer Herkunft zu sein.“

29. April 2023

Als 10-Jähriger die ganze Welt bereisen, auf den größten und bedeutendsten Bühnen der Welt singen und weg von den Eltern sein – das hört sich für den ein oder anderen kleinen Jungen ziemlich verlockend an. Deniz Germec, heute 21 Jahre alt, hat genau das erlebt, als er mit 10 Jahren bei den Wiener Sängerknaben aufgenommen wurde: Als erster türkischstämmiger Schüler nach 513 Jahren. Im Interview verrät er, wie der Alltag im Internat aussah, welche Probleme es gab und welche Erlebnisse im Ausland unvergesslich waren.

Biber: Wie kamst du zu den Wiener Sängerknaben? 

Deniz Germec: Damals als ich in der dritten Klasse der Volkschule Wichtelgasse war kam ein Chor namens „Superar“ zu uns. „Superar“ ist ein gemeinnütziges Programm, welches musikalische und künstlerische Aktivitäten anbietet. Der Musikleiter ist damals jede Woche in unsere Schule gekommen. Eines Tages hat er gesagt, dass wir auf einem Konzert mitsingen müssen, wo der berühmte türkische Dirigent Cem Mansur einmalig dirigiert hat. Wir haben das türkische Volkslied „Üsküdar’a Gider İken“ mit seinem Orchester gesungen. Aus irgendeinem Grund wollte der Musikleiter, dass ich die zweite Strophe solo singe. Danach habe ich erfahren, dass es an meinem selbstbewussten Auftritt lag, dass ich gewählt wurde. Die Wiener Sängerknaben sind am gleichen Abend auch dort aufgetreten und haben dann den Musikleiter von „Superar“ angefragt, ob ich ein Teil der Sängerknaben werden möchte. Ich wurde dann ein Monat lang in ein Probecamp am Wörthersee geschickt. Nach dem Camp wurde ich direkt aufgenommen.

„Ein türkischer Junge aus dem Arbeiterviertel“ – so wurdest du medial betitelt. Was hat das mit dir gemacht, dass du nach 513 Jahren der erste Türke bei den Wiener Sängerknaben warst? 

Es gab schon paar Probleme. Es fielen immer Aussagen bezüglich meiner Herkunft oder meiner Religion. Als Kind weiß man nicht, ob etwas als Spaß oder ernst gemeint ist. Ich wurde zum Beispiel abgesehen von vielen anderen Schimpfwörtern, als „Dönermann“, „Putzfraukind“ oder als „arm“ bezeichnet – sie haben ja gesagt, dass meine Familie und ich aus einem Arbeiterviertel waren, obwohl das nicht einmal stimmt. Medial wurde die Aufmerksamkeit nicht auf mich, sondern auf unseren Zustand oder auf meine Herkunft gerichtet. Ich fand den Artikel von damals selbst auch sehr irritierend. Die meisten dort waren Kinder von mächtigen Familien, die von finanziell starken Haushalten kamen. Es war deprimierend der einzige mit türkischer Herkunft zu sein. 

Hattest du Schwierigkeiten aufgrund deines Migrationshintergrundes?

Es gab auch Kinder, die aufgrund anderer Sachen ausgelacht wurden, aber ich war der Einzige, der wegen seiner Herkunft gemobbt wurde. Meine Eltern haben gewusst was ich dort erlebe und haben versucht mich in die Gruppe besser zu integrieren, zum Beispiel mit dem neuesten Handy – aber es hat nie funktioniert. Jetzt kann ich darüber lachen aber damals, als ich ohne Eltern als 10-Jähriger ganz allein dort war, habe ich mir sehr schwergetan. Ich wurde deshalb von Tag zu Tag immer aggressiver. Es war immer ein Auf und Ab – an einem Tag haben sie nichts gemacht und wir hatten alle zusammen Spaß und am nächsten Tag war ich das Mobbingopfer. Ich habe oft geweint. Wenn ich das alles in diesem Alter erlebt hätte, würde ich sagen, dass das zu 100% Rassismus ist. Ich denke auch, dass Eifersucht eine Rolle gespielt hat, weil ich sehr viel mediale Aufmerksamkeit bekommen habe. Aber einen Kinderverstand kannst du nicht mit einem erwachsenen Menschenverstand vergleichen.

Wie sah dein Alltag im Augarten-Internat bei den Sängerknaben aus? Wie war dein Alltag?

Wir wurden jeden Tag um 6:30 oder 7:00 Uhr aufgeweckt. Dann hatten wir eine Dreiviertelstunde Zeit, um uns anzuziehen und in die Kantine frühstücken zu gehen. Wir hatten von Montag bis Freitag jeden Tag bis zehn Uhr Schule. Danach wurden wir zur Chorprobe geschickt. Wir hatten vier Chöre, aber im Schulunterricht waren wir alle gemeinsam. Zwei Stunden hatten wir immer Chorprobe – manchmal auch länger, wenn ein wichtiger Auftritt bevorstand. Nach einer Stunde Mittagspause hatten wir wieder Schule bis 18 Uhr. Nach dem Abendessen hatten wir zwei Stunden Freizeit. Und danach eine Stunde Bettzeit. Wir hatten ein eigenes Schwimmbecken, zwei Fußballfelder, Tennisplätze und noch vieles mehr – also langweilig war es nie. Wir schliefen zu dritt in einem Zimmer. 

Hattest du jemals den Gedanken, dass du auf eine normale Schule willst?

Die Schule war schwer – ich war dort ein Jahr lang in der Volksschule und zwei Jahre im Gymnasium. Das Schuljahr war in Trimester geteilt - zwei Semester Schule, ein Semester Chor. Es war sehr diszipliniert. Aber ich hatte nie den Gedanken auf eine normale Schule zu wollen, weil der Ansporn die ganze Welt zu bereisen zu groß war. Man bemerkt das im Moment nicht, aber rückblickend kann ich sagen, dass der Arbeitsaufwand schon enorm war für einen 10-Jährigen. Auf Tourneen waren wir sechs Tage lang nonstop unterwegs. Ich musste sehr schnell erwachsen werden, weil ich auf mich allein gestellt war. 

Was war deine schönste Erfahrung im Ausland? Welcher Ort hat dir am meisten gefallen? Welcher Ort eher nicht?

Ich habe fast ausschließlich positive Erfahrungen im Ausland gemacht. Als Kind konnte ich nicht alles verarbeiten, es war einfach zu viel Input. Wir haben viele aufregende Dinge unternommen, wie zum Beispiel das Disneyland und die Universal Studios besucht, Kängurus in Australien beobachtet, einen Wal berührt und Sehenswürdigkeiten wie die Niagarafälle, das Taipei 101, das Empire State Building und die Carnegie Hall besichtigt. Ich hatte die Gelegenheit, im Sydney Opera House zu singen, was ein unglaubliches Erlebnis war.

Obwohl das Mobbing während der Tournee weiterging, war es nicht so intensiv wie im Internat in Wien. Wir waren immer mit zwei Erziehern und einem Chorleiter auf Tournee. Abgesehen von der Türkei hat mir Australien am besten gefallen.

„Wir wollen sichergehen, dass die Kinder sich bei uns wohl fühlen. Anders ist Singen nicht möglich“ sagt Gerald Wirt (Präsident, künstlerischer Leiter) Passt diese Aussage zu deinen Erfahrungen bei den Sängerknaben? 

Gerald Wirt ist ein sehr netter Mann und ich habe nie negatives bezüglich seiner Person erlebt. Aber bezüglich seiner Aussage- sie wollten, dass man sich wohlfühlt, aber haben es nicht geschafft. Wie wohl soll sich ein 10-Jähriger dort fühlen? Wenn ich mit meinem jetzigen Verstand darüber nachdenke, würde ich mich natürlich unwohl fühlen. Es war immer ein Switch von unwohl-glücklich- unwohl-glücklich. 

Könntest du mir von deinen schlechten Erfahrungen erzählen? 

Mir wurden manchmal Sachen gestohlen, diese Sachen wurden dann beschädigt. Mein Schuhspray wurde mir in der Nacht auf das Gesicht gesprüht. Ich wurde in der Nacht auch mit Wasserballons bombardiert von Kindern aus anderen Zimmern. Während ich auf der Toilette war, wurde in mein Essen Schweinefleisch reingemischt. So welche Sachen sind bei keinem so häufig passiert wie bei mir. Meine Privatsphäre wurde nicht respektiert. Der schlimmste Moment war für mich als mein Schlüssel gestohlen wurde- ich wusste nicht, wie ich es meinen Eltern erzählen sollte und die Gebühren für die Schlüssel betrugen 20€, was damals viel für uns war. 

Stellungnahme des Elternvereins: „Mobbing wird angesprochen und besprochen... sobald Mobbing ganz konkret thematisiert wird- also mit dem konkreten Problem und den beteiligten Personen bezeichnet wird- gibt es kein Mobbing mehr.“ – wie bewertest du diese Aussage? 

Blödsinn! Das funktioniert nirgendwo. Außer, bis Konsequenzen gezogen werden- da müssten schon ein paar Kinder von der Schule fliegen, dass es aufhört. Aber dann würde es irgendwann bestimmt wieder beginnen. Sie müssen versuchen ihr Image zu bewahren sonst würden sie nicht mehr finanziert werden. Natürlich müssen sie auch bestimmte Sachen vertuschen. Mobbing ist strafbar und das wissen sie auch- sie haben versucht, dass diese Fälle von Mobbing intern bleiben und keine externen Personen Wind davon bekommen. Intern haben sie dafür gekämpft, dass es aufhört- aber es hat sich nichts verändert. Mein Chorleiter stand immer hinter mir und hat immer mit allen versucht zu reden, die mir etwas antun wollten. Sie haben Gespräche mit den Eltern geführt- bei mir kam das zwei bis dreimal im Jahr vor. Bei diesen Gesprächen ging es eher darum, dass ich anders mit dem Mobbing umgehen soll – also es wurde über meine aggressive Gegenreaktion geredet. 

Kam je eine Entschuldigung von denen, die dich schlecht behandelt haben? 

Als meine Mobber mich nach Jahren angerufen haben und sich nacheinander entschuldigt haben für die Sachen, die sie mir angetan haben, reagierte ich sehr erwachsen darauf. Sie realisierten, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung war. Aber das hat mich alles zu dem Menschen gemacht, der ich jetzt bin. Meine Eltern haben mich von den Sängerknaben rausgeholt, weil sie mir das nicht mehr antun konnten. Ich war erleichtert als sie mich rausgeholt haben, weil erst danach habe ich meine echten Freunde kennengelernt- also in einer „normalen“ Schule.

2010 wurden etliche Missbrauchsvorwürfe publik gemacht. Hast du sowas auch mitbekommen?

Missbrauch habe ich in meiner Zeit nie gesehen. 

Würdest du rückblickend wieder Teil von den Wiener Sängerknaben sein wollen?

Nein. Und wenn ja – dann würde ich mich bei bestimmten Sachen anders entscheiden. Vielleicht würde ich dann nicht petzen, wenn jemand mich schubst, schlägt oder etwas stiehlt. Vielleicht wäre ich dann beliebter. Wenn Menschen ihre Kinder zu den Wiener Sängerknaben schicken wollen- denkt meiner Meinung nach zwei oder dreimal nach. Abgesehen von den Mobbingerfahrungen- denkt nach, ob euer Kind es aushaltet drei bis vier Monate von den Eltern getrennt zu sein beziehungsweise im Internat zu sein. Das ist nicht jedermanns Sache. Ich bin trotz allem glücklich, dass ich dort war. Ich bin aufgrund all dieser Erfahrungen sehr gewachsen und bin sehr froh, dass ich nicht bleibende psychische Schäden aus dieser Zeit habe- denn meine Eltern haben mich zum richtigen Zeitpunkt da rausgeholt.

 

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