Fischteich der Radikalisierung

20. August 2015

Über 200 ÖsterreicherInnen kämpfen oder kämpften in Syrien und Irak auf der Seite des Islamischen Staates. Wiener Netzwerke und ExpertInnen versuchen zu de-radikalisieren und erklären wieso sich manche Gruppen zum Extremismus verleiten lassen.

 „Feuerwehrpolitik“ oder Präventionsarbeit?

Laut aktueller Studie des Wiener Netzwerks für Deradikalisierung  wurden seit Oktober 2014 bis April dieses Jahres 211 Personen aus Österreich als JihadistInnen identifiziert. Davon sind 92 Personen bereits als aktive KämpferInnen in der Krisenregion. 68 JihadistInnen sind bereits wieder nach Österreich heimgekehrt und 31 Personen sind bis dato bei Gefechten und Angriffen in der Region umgekommen. Ganze 62% aller JihadistInnen österreichweit, also rund 126 Personen, kommen aus Wien.

„Ad hoc Lösungen sind der falsche Ansatz“ sagt Kenan Güngör, Soziologe an der Beratungsstelle „think.difference“. Er plädiert für langfristige Präventionsarbeit und gegen einen „rein“ sicherheitspolitischen Diskurs, der nur auf Verbote und Gesetze abzielt. Das Wiener Netzwerk für Deradikalisierung und Prävention“, das 2014 einrichtungsübergreifend von der Kinder-und Jugendanwaltschaft Wien aufgebaut wurde, sei ein einzigartiges und besonderes Modell, so Güngör. Das Netzwerk bietet eine erste Anlaufstelle für Angehörige oder Bezugspersonen, die befürchten dass sich ein/e Angehörige/r oder Bekannte/r extremistischen oder religiös fundamentalistischen Gruppen angeschlossen hat oder diesen nahe steht. Es soll helfen reale Gefahren zu erkennen und unterstützend bei einem umfassenden Deradikalisierungsprozess einzugreifen. „Feuerwehrpolitik“ alleine sei keine Lösung so die ExpertInnen.

Neben einer wichtigen Debatte um Kulturalisierung und Islamfeindlichkeit muss man aber auch den „Finger in die Wunde legen“ sagt Tanja Wehsely, Abgeordnete zum Wiener Landtag. „Es geht um Demokratiekultur und dieses Thema wird uns noch lange beschäftigen“ sagt Wehsely.  Die Wiener Stadträtin für Integration und Frauenfragen, Sandra Frauenberger, betont Radikalisierung und Extremismus seien keine Frage der Integration, allerdings steht für sie fest, dass „ein Migrationshintergrund meist als Migrationsvordergrund“ gesehen wird und Benachteiligungserfahrungen nach sich zieht. Zentral bei der Radikalisierung von Jugendlichen scheint allerdings, so der Kanon der ExpertInnenschaft, die soziale Herkunft, Perspektivlosigkeit und Frustration bei den Betroffenen. „Gefühlte soziale Deprivation kann Radikalisierungstendenzen bewirken“ sagt Eva Grabherr, Projektleiterin von „okay. zusammen leben“. Alltags- und institutionalisierter Rassismus und die Kulturalisierung sozialer Konflikte bewirken Abschottungstendenzen, Parallelgesellschaften und „reverse racism“ (einen umgekehrten Rassismus).

„Eine Abwertung kommt selten allein“

Im Radikalisierungsprozess haben peer groups, Netzwerke und soziale Medien eine wichtige Funktion. Güngör teilt Radikalisierte in drei Gruppen ein, die Leicht-Sympathisierenden, die Stark-Sympathisierenden und schließlich die kleinste Gruppe der gewaltbereiten JihadistInnen. Er spricht hierbei von einer Prä-, mittleren und starken Radikalisierung. Im Anfangsstadium dieser Radikalisierung sei die Präventionsarbeit daher am effektivsten und bei stark ideologisch Indoktrinierten sei Deradikalisierung die größte Herausforderung, so Güngör. Dennoch muss vor allem auch Ursachenforschung betrieben werden.  „Wir sollten nicht auf die Fische schauen sondern auf den Teich“ sagt Güngör und meint damit den gesellschaftlichen Kontext in dem Abwertungsideologien von extremistischen Fundamentalisten gedeihen können. „Die Passivität der Diskriminierten geht in die Aktivität als Diskriminierende über“ meint Andreas Peham, vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes.

Lösungsansätze

ExptertInnen diskutieren unterschiedliche Fragestellungen zu Minderheitenproblemen und konfliktfreien, gesellschaftlichem Zusammenleben. Es werden unteranderem immer wieder die Liberalisierung der Asylgesetze, eine Reform des (kommunalen) Wahlrechts für in Österreich Ansässige Nicht-StaatsbürgerInnen, die WohnbürgerInnenschaft, so wie präventive Maßnahmen in Schule und Bildungseinrichtungen gefordert. Außerdem wünschen sich ExpertInnen neue Räume für religiöse Diskurse zum Beispiel durch die Einführung von Religionskunde und Ethikunterricht an den Schulen. Alle diese Maßnahmen sollen Abschottungstendenzen als auch Ausschlussmechanismen einer Mehrheitsgesellschaft gegenüber Minderheiten entgegenwirken, so die Theorie.

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