Warum meine Familie toxisch und gleichzeitig ein Safe Space ist

07. November 2022

image.jpeg

.
Meine Cousinen und Cousins beim Pflücken der Erdbeeren auf dem Feld meiner Großeltern in der Türkei. Quelle: Privat

„Du bist viel zu dünn, du hast zu viele Tattoos“, meine Familie in der Türkei kommentiert gerne mal ungefragt mein Aussehen. Obwohl ihre Aussagen manchmal unbedacht und chauvinistisch sind, genieße ich noch jeden Aufenthalt in der Heimat meiner Eltern.

„Du hast schon wieder so viel abgenommen, du musst mehr essen Kind!“, sagt meine Tante erschrocken als ich im Haus meiner Großeltern im Dorf eintreffe. Eine Aussage, die ich Zuhause in Wien im Keim ersticken würde. Denn sie ist übergriffig, eine ziemlich üble Form von bodyshaming und schlichtweg eine sehr unpassende Begrüßung. Aber hier in Yayladagi, an der syrischen Grenze, wo mein Vater aufgewachsen ist, gehören ungefragte Kommentare zu meinem Aussehen zur Norm. Ob es nun mein neues, zu großes Tattoo ist, das mir sicherlich irgendwann nicht mehr gefällt oder das Top, das dieses Tattoo nicht reichlich bedeckt.

Wir sind unterschiedlich sozialisiert

Ich weiß, dass meine Tante es gut meint. Sie macht sich Sorgen darüber, ob ich nicht genug esse oder schief angeschaut werden könnte und mich dann unwohl fühle. Sie umarmt mich so herzlich, dass ich ihre Sehnsucht und Liebe spüren kann. Später beim Essen besteht sie drauf, dass ich Nachschlag nehme und unbedingt Nar und Hurma (Türkisch für Granatapfel und Khaki) aus Omas Garten essen muss. Das organische Obst würde mir sicher fehlen drüben in Österreich. Ein Nein wird nicht akzeptiert. Meine Tanten sind die Letzten, die sich an den Tisch setzen, um zu essen. Ich habe meistens schon aufgegessen, bevor eine von ihnen überhaupt einen Bissen zu sich genommen hat. Warten soll ich nicht, das Essen würde doch kalt werden. Eine Gewohnheit, die sie jetzt nach Jahren nicht mehr ablegen können. Ihre Brüder sind vor Jahrzehnten nach Deutschland ausgewandert, um Geld zu verdienen und damit die gesamte Familie zu unterstützen. Sie würden viel arbeiten deswegen sollen sie ja keinen Finger rühren, wenn sie zu Besuch sind. Das ist die Willkommens-Logik meiner Familie. Meine Tanten lieben ihre Brüder. Sie sind einander so nah, wie man sich nur nah sein kann. Jahrelang schliefen alle sechs Geschwister im gleichen Zimmer. Damals hatte die Familie finanzielle Probleme, doch sie sprachen nie darüber. So wurde es ihnen beigebracht. Sie lernten, Dinge runterzuschlucken. Hauptsache keine Schwäche zeigen. Es sollte bloß niemand verletzt oder belastet werden – außer ihnen. Meine Oma ist die selbstloseste und liebevollste Person, die ich kenne – Eigenschaften, die bei ihr so stark ausgeprägt sind, dass sie sich über Generationen hinweg etabliert haben. Unter der psychoanalytischen Lupe ist dies zwar eine romantisierte Darstellung sehr problematischer zwischenmenschlicher Beziehungen und Verhaltensweisen aber für meine Familie sind es Opfer, die sie aus Liebe zueinander bringen. Diese Verhaltensweisen sind uns, als Kinder dieser Geschwister, von klein auf mitgegeben worden und begleiten uns bis heute. Der Unterschied: Sie hatten weder Psychotherapeut*innen zur Aufarbeitung ihrer Traumata, noch hatten sie ein sensibilisiertes Umfeld in dem Tabus gebrochen und über mentale Gesundheit gesprochen wurde.

Ein sicherer Hafen in schweren Zeiten

Als ich letzten Sonntag die Nachricht erhielt, dass mein Cousin verstorben war, brach ich zusammen. Unsere gesamte Kindheit zog plötzlich an mir vorbei. Ich spürte ein Brennen, das ich so bisher noch nicht kannte und fühlte mich gleichzeitig betäubt, wie paralysiert. Die Distanz zu ihnen ist in solchen Momenten noch unerträglicher. Sich nicht umarmen und küssen zu können, am Telefon herumzustammeln, weil ich mir unsicher bin, wie ich Beileidsbekundungen auf Türkisch richtig formuliere. Das fühlt sich ziemlich beschissen an. Vielleicht auch weil mir diese Worte am Telefon unehrlich und unzureichend vorkommen. Also entschied ich hinzufliegen. Und trotz dem Leid, dem ich begegnete und der Bedrückung, spürte ich eine unglaubliche Erleichterung bei meiner Ankunft. Denn ich wusste, das ist der Ort, an dem ich mich jetzt sicher fühle. Das sind die Menschen, mit denen ich mich sicher fühle. Es wurde wenig geredet, aber so viel gesagt. Ich ließ die Hand meiner Tante nicht los. Ich hielt stundenlang schweigend den Bruder meines verstorbenen Cousins im Arm. Ich küsste meine Oma jeden Abend vor dem Schlafengehen und sagte ihr, wie sehr ich sie liebe. Ich fuhr am letzten Tag mit meinen Cousinen und Cousins auf den Bauernhof, auf dem wir als Kinder im Sommer gespielt haben. Wir sammelten Erdbeeren vom Feld, so wie wir es früher machten. Und dann fuhren wir zum Grab um gemeinsam zu beten und uns zu verabschieden. Es war unfassbar emotional und wir weinten sehr viel. Paradoxerweise blicke ich trotzdem mit einem Lächeln auf diese Tage zurück. So unbegreiflich dieser Tod für mich noch immer ist - die Kraft, die ich dank meiner Familie schöpfen konnte und das gemeinsame Trauern waren unglaublich heilend.

Es ist nicht immer nur schwarz und weiß

In den letzten Jahren sind mir die problematischen Muster innerhalb der familiären Beziehungen immer bewusster geworden und ich fing an zu hinterfragen, ob sie gesund sind. Gleichzeitig blicke ich nostalgisch auf die Sommer zurück, die ich mit meinen Cousinen und Cousins im Dorf verbrachte und freue mich immer noch jedes Mal wie ein kleines Kind, wenn eine*r von ihnen zur gleichen Zeit wie ich dort ist. Denn was wir gemeinsam haben ist, wo unsere Wurzeln sind und die Familie, aus der wir kommen. Wir verstehen einander auf eine Weise, auf die es Menschen außerhalb dieser Familie nie könnten. Und das ist, was uns verbindet. Wir führen alle individuelle Leben, wir haben verschiedene Weltansichten und unterschiedliche politische Einstellungen. Manchmal gehen unsere Meinungen so weit auseinander, dass auch Diskussionen keinen Sinn machen, weil sie so fern voneinander sind. Aber wir brauchen einander, um uns vollkommen zu fühlen. Und auch vollkommen verstanden. Wir kennen unsere vulnerabelste Seite. Und diese Seite ist nun mal ein Teil von uns. Abseits von unserem anderen Leben und unserem anderen Ich. Der Unterschied unserer Generation ist, dass wir all dies erkannt haben. Wir sind fähig dazu, die ewige Kette des Schweigens und Verdrängens zu durchbrechen. Wir haben als Erwachsene auch verstanden, dass es in Ordnung ist in zwei verschiedenen Welten zu leben. Dass der Spalt zwischen uns - so anstrengend und zerreißend er manchmal sein mag - notwendig ist.

Blogkategorie: 

Das könnte dich auch interessieren

Foto: Zoe Opratko
Zum Abschied gibt es kein Trompeten­...
Foto: Marko Mestrović
Ob Hijabi-Style, koschere Perücken oder...
Foto: Marko Mestrović
Nicht über die Communitys zu sprechen,...

Anmelden & Mitreden

2 + 0 =
Bitte löse die Rechnung