Woran erkennt man einen syrischen Flüchtling?

29. November 2023

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(C): Jordann Whitfield/ Unplash

Stipendiatin Ajleen Hasan ist vor sieben Jahren aus Syrien nach Wien geflüchtet und kann in Alltagssituationen sofort erkennen, ob eine Person ein Flüchtling aus Syrien ist – es verbindet sie alle nämlich ein bestimmtes Merkmal.

Ob auf der Straße, während Zugfahrten oder langen Wartezeiten beim Arzt - wenn eine Person vor mir steht, dann kann ich ihre Identität als syrischer Flüchtling sofort erkennen, ohne dass sie etwas sprechen muss. Ich erkenne es nicht durch äußere Merkmale wie Haut-, Haar- oder Augenfarbe - es gibt viele Syrer*innen mit blonden Haaren und blauen Augen - sondern ich spreche hier über die Beobachtung eines Merkmals, das syrische Flüchtlinge von vielen anderen Menschen unterscheidet – nämlich das fehlende Selbstbewusstsein. Es war damals optisch sowieso klar, dass ich ein Flüchtling bin.

Die Ursprünge dieser Beobachtungen liegen in meinen Anfangszeiten in Österreich. Im Jahr 2016 und in den Flüchtlingslagern war der Gedanke an "Flüchtlingsmerkmale" für mich nicht relevant. Ich lebte in einem Lager, in dem ausschließlich Syrer*innen waren, und meine Priorität lag darin, ein positives Aufenthaltsrecht zu erhalten. Nach dem Erhalt des positiven Asylbescheids und meinem Einzug in eine eigene Wohnung war es keine Priorität, mein Äußeres als Flüchtling zu verbergen, denn ich hatte zu dieser Zeit kein Geld für neue Kleidung oder einen Friseurbesuch. Es war damals optisch sowieso klar, dass ich ein Flüchtling bin.

Nach etwa einem Jahr begann ich jedoch, auf mein Äußeres zu achten, um möglichst wenig wie ein Flüchtling auszusehen. Meine braunen Augen und meine Haarfarbe verrieten mich dennoch. Später entschied ich mich für blonde Haarsträhnen, was sich als Fehlversuch herausstellte, denn meine bis zur Schulter reichenden braunen Haare wurden plötzlich orange. Das führte zu einem erneuten Identitätskonflikt, denn ich wollte weniger auffällig sein und auf die Menschen nicht seltsam wirken. Nach einiger Zeit traf ich die Entscheidung, meine Haare kurz zu schneiden, um äußerlich erkennbare „Flüchtlingsmerkmale“ so weit wie möglich zu reduzieren. Nach jahrelanger Überlegung kam ich aber zu einer neuen Schlussfolgerung: Selbst, wenn ich blond wäre, wie viele andere Syrer*innen, wäre ich trotzdem als Flüchtling erkennbar. Denn es liegt nicht am Äußeren, sondern an der inneren Wahrnehmung der Person selbst. Sechs Jahre lang arbeitete ich unter anderem als Dolmetscherin für Geflüchtete aus Syrien. Es verging kein Tag, an dem ich nicht im Kontakt mit Syrer*innen war. Ich traf zahlreiche Asylsuchende, Menschen aus verschiedenen Städten, Gesellschaftsschichten und Hautfarben Syriens – gut ausgebildete, alphabetisierte Akademiker*Innen, Syrer*Innen mit blonden Haaren, dunklen, braunen Augenfarben. Egal, wie sie aussahen, welche Hautfarben sie trugen oder wie gut sie Deutsch sprachen, nach wenigen Augenblicken konnte ich erkennen, dass sie Flüchtlinge sind.

Erschöpfte Gesichter, trockene Haut, tiefe Falten

Erschöpfte Gesichter, trockene Haut, tiefe Falten – aber woran erkennt man einen Flüchtling? Wenn eine Person jahrelang von Krieg, Angst, Perspektivlosigkeit und Hilflosigkeit geprägt ist, wird dies irgendwann auch nach außen sichtbar. Sorgen und Ängste tragen wir nicht unbedingt im Gesicht, sondern in den Augen. Selbst während COVID, als Menschen Masken trugen, konnte ich ihre Flüchtlingsidentität erkennen, indem ich tief in ihre Augen schaute. Erschöpfte Gesichter, trockene Haut, tiefe Falten – all diese Merkmale zeugen von unvorstellbaren Lebensbedingungen. Besonders bei den Männern war Unsicherheit und Perspektivenlosigkeit sichtbar. Viele Männer aus diesen Kulturkreisen neigen dazu, Traumata aus Stolz zu verbergen, während Frauen durch Weinen ihre Ängste und Gefühle zeigen können. Manchmal kamen Männer mit grauen Haaren und sichtbaren Falten im Gesicht, ich hätte sie vielleicht auf 35 oder älter geschätzt, aber dann, als sie mir ihre Ausweise zeigten, sah ich, dass sie genauso alt waren wie ich – also Anfang 20. Das tat weh, denn es lag nicht an ihren Genen, sondern an den extremen Lebensbedingungen während des ununterbrochenen Kriegs. Lange, gefährliche Fluchtwege, monatelange Überquerungen von Grenzen zu Fuß oder stundenlange Fahrten über das Meer, Essensmangel, Kälte und die ständige Angst, nicht überleben zu können – all dies sind Faktoren, die das Selbstbewusstsein zerstören. Während meiner Tätigkeit beim ÖIF beobachtete ich auch im Gegensatz dazu Ukrainer*innen, die mit vollem Selbstbewusstsein strahlten, wenn sie das Beratungsbüro betraten. Ich fragte mich, warum ich sie weniger als Flüchtlinge einschätzte.

Gäste vs. Geflüchtete

Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, erfolgte der russische Angriff so schnell, dass die Menschen sofort fliehen konnten. Sie mussten nicht jahrelang unter den schlechtesten Lebensbedingungen zurechtkommen, Winternächte ohne Heizung verbringen oder im Wald nach Holz für eine Mahlzeit suchen. Sie mussten nicht monatelang darauf warten, dass ein Land seine Grenzen öffnete, sondern waren innerhalb weniger Stunden in einem europäischen Nachbarland und mussten zum Glück nicht leiden. Das macht den Unterschied – warum sie so selbstbewusst und sicher waren. Im Gegensatz dazu beobachtete ich syrische Flüchtlinge, die demotiviert, blass und unsicher erschienen. Die schwierige Lebensrealität, die der Bürgerkrieg in Syrien brachte, erschöpfte die Menschen und raubte ihnen jede Lebensperspektive. Wenn man jahrelang unter solchen Umständen lebt, wird die Angst zu einem ständigen Begleiter des Alltags, bewusst oder unbewusst. Denn genau das habe ich auch erlebt, daher erkenne ich syrische Flüchtlinge sofort. Im ersten Moment sehe ich Ukrainer*innen als Europäer*innen, bis sie ihr erstes deutsches Wort aussprechen, denn diese Angst sehe ich nicht in ihren Augen. Im Gegenteil, sie überraschen mich mit ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Selbstbestimmtheit, was auf vielfache Weise positiv ist.

Doch aus meiner Sicht liegt es daran, wie Flüchtlinge in der Gesellschaft, in die sie fliehen, behandelt werden und wie sie von den Einheimischen wahrgenommen werden. Viele Österreicher*innen behandeln Ukrainerinnen wie Europäer*innen, was auch stimmt, da sie vom selben Kontinent kommen. Aber sie tragen nicht denselben Status wie die anderen Flüchtlinge, obwohl sie denselben Titel tragen. Das spiegelt ihre innere Wahrnehmung wider, denn sie werden nicht als Flüchtlinge gesehen, sondern als Gäste. Im Gegensatz dazu nehmen sich Syrer*innen als Last wahr, denn sie werden immerhin als Flüchtlingskrise bezeichnet. Wenn mich nach sieben Jahren Aufenthalt in Österreich jemand persönlich fragt, ob ich während der Flüchtlingskrise nach Österreich gekommen sei, wie soll ich mich bitte als Gast fühlen? Trotz all dieser Jahre der Integration und Bemühungen kann ich mich nicht anders als Bedrohung für Österreich fühlen. Und das bringt mich zu einer wichtigen Frage: Woher soll bitte das innere Selbstbewusstsein kommen?

Mittlerweile gelingt es mir schon, schöne blonde Strähnen zu haben. Aber ehrlich gesagt, ist es für mich nicht mehr relevant, ob ich offensichtlich als Flüchtling auffalle oder nicht. Denn manchmal ist die Auffälligkeit als Flüchtling viel einfacher als die Unsichtbarkeit.

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