Ungarn: Zug um Zug in die Freiheit
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Sie wähnen sich schon im gelobten Deutschland, die Flüchtlinge am Budapester Bahnhof. Dann stoppt ihr Zug im Nirgendwo. Aber immerhin stimmt die Richtung.
Am Budapester Ostbahnhof (Keleti) eskaliert die Lage Tausender Flüchtlinge immer mehr. Wie sie auf dem neu renovierten Bahnhof campen, gleicht zweimal Traiskirchen auf dem Wiener Schwedenplatz - mit Beton statt Wiese. Die Polizei hindert die Flüchtlinge am Ausreisen in den Westen und riegelt mit einer bulligen Menschenkette den Bahnhof ab. Der internationale Zugverkehr ist eingestellt. Die große Uhr auf dem Keleti zeigt 5 vor 12 am Mittwoch Abend.
Der Geruch von Urin liegt in der Luft. Die Mobilklos quellen über. Frauen, Männer und Kinder schlafen auf den kalten Fliesen des Bahnhofsvorplatzes im grellen Neon-Licht. Willkommen im schillernden Westen.
Joseph vor der Verteilstelle von "Migrant Aid", ist ein Freiwilliger und teilt Decken, Bekleidung und Hgenyie-Artikel an die wartenden Menschen aus. In seiner Pause erzählt er, dass er über Facebook über die Hilfsaktion erfahren hat und als hungaro-franzose die Situation unterträglich findet. Vielen geht es so, die hier den Staat als Helfer ersetzen. "Meine Mutter ist damals nach Frankreich auch als Migrant angekommen und ihr wurde geholfen. Ich fühle mich verpflichtet, hier zu helfen." Aus Wien karren bärtige Mitglieder einer bosnischen Moschee in Wien mit einem großen Van alles herbei, was den letzten Rest an Menschenwürde sichert.
Die missverständlichen Ankündigung der deutschen Kanzlerin Merkel, alle syrischen Flüchtlinge aufzunehmen, hat bei allen Träume und Hoffnungen geweckt. Sie kommen in Scharen auf den Keleti, nehmen große Risken auf sich. Sie möchten das Grauen des Krieges, den Verlust von Hab und Gut und die beschwerlichen Tage der Flucht hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen. Deutschland scheint mit seiner brummenden Wirtschaft dafür der ideale Ort zu sein.
Hope on thin paper. 90 Euros to Vienna, 130 Munich. #refugees #keleti @biber_mitscharf pic.twitter.com/CW8f4y5LkX
— Get'EmAdam (@GetEmAdam) September 3, 2015
An einem Tag werden Züge nach Österreich durchgelassen, tags darauf wird der gesamte Zugverkehr lahmgelegt. Donnerstag Früh startet plötzlich ein Regional-Zug randvoll mit Flüchtlingen. Fahrplanziel: Sopron. Von dort wäre es ein Katzensprung nach Wien und dann in den nächsten Zug nach München. Doch der ungarische Premierminister Viktor Orban legt eine Vollbremsung ein. Die Flüchtlinge landen im nur 40 Kilometer entfernten Bicske. In Bicske befindet ein echtes Traiskirchen der ungarischen Behörden. Dort sollen sie nun hin. Die Flüchtlinge wollen aber nach Deutschland weiter und schreien aus dem stickigen Zug, den sie nicht verlassen wollen: No Camp, no Water, Germany! Eine Pattsituation; für Stunden. Sie hält noch immer an, jetzt in der Dunkelheit am Donnerstag Abend.
Viele verzweifelte Flüchtlinge haben vier Länder in nur 20 Stunden durchmessen. Die letzten Kilometer haben sie es nun wieder mit der bulligen Polizistenkette zu tun - wie in Keleti. Doch sie haben sie immerhin um 40 Kilometer gen Westen gedrängt. Viele internationale Journalisten verfolgen jede Bewegung der Polizisten mit Argusaugen. Die Flüchtlinge mit Gewalt aus dem Zug ins Camp zu befördern, würde einen internationalen Aufschrei auslösen. 21 Uhr. Die ersten Flüchttlinge geben nach, verlassen den Zug und steigen in den Bus ins Camp. Ihre Endstation ist das aber sicher nicht. Zu nah liegt das Glück.
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