„Die Mangas sind eine Projektion für das eigene Verlangen.“

20. Januar 2022

Sanela Dragutinovic
Sanelas Tattoo ist aus der populären Animeserie "Naruto". Sie hat es sich selbst gestochen. ©Mafalda Rakoš

Sanela Dragutinović zeichnet seit ihrem fünften Lebensjahr. Warum sich die Künstlerin nun auf homoerotische Mangas spezialisiert hat, und was ein schwedischer Schauspieler mit dem Ganzen zu tun haben könnte, erfahren wir in ihrem liebsten Comicbuchladen.

Von Nada El-Azar, Fotos: Mafalda Rakoš

Sanela Dragutinović setzt einen Fuß in das Geschäft und beginnt zu strahlen. „Ich war schon so lange nicht mehr hier“, sagt sie begeistert und bleibt zwischen den bis oben hin mit Comics gefüllten Regalen stehen. Wir befinden uns im Wiener „Comic Treff“ in der Barnabitengasse, in einer Seitengasse der Mariahilfer Straße. Das Geschäft gibt es seit 1990 und ist seither eine der Top-Adressen für Comic- und Mangabegeisterte. Solche wie der 36-jährigen Sanela. Die Künstlerin mit serbischen Wurzeln zeichnet Mangas im echt-japanischen Stil und ist unter ihrem alten Namen Sanela Stanković mit einer doppelseitigen Arbeit in der 10. Jubiläumsausgabe der Kunstzeitschrift „Parabol“ vertreten. Die Zeichnungen zeigen mitunter homoerotische Szenen zwischen jungen Männerfiguren. Sanela Dragutinovićs Spezialgebiet ist das Genre des „Shōnen Ai“, was aus dem Japanischen übersetzt „Jungenliebe“ heißt.

Sanela ist wie ihre zwei Brüder in Wien geboren. Der Vater kam mit acht Jahren schon aus Serbien nach Wien und arbeitete als Schmied. Ihre Mutter war Verkäuferin. Zum ersten Mal in Kontakt mit „Shōnen Ai“ kam Sanela mit 14 Jahren. In einem kleinen Comicladen im 16. Bezirk kaufte sie sich den Manga „Zetsuai“ der Zeichnerin Minami Ozaki aus dem Jahr 1989. „Mir gefiel das Cover und ich fand es aufregend, mit 14 Jahren über eine Romanze zwischen zwei Jungs zu lesen, gerade in meiner Familie." In ihrer Roma-Familie sei der Umgang mit Sexualität offen gewesen, wie sie beschreibt, dennoch hatte dieser eine Manga Sanela besonders gepackt. Was war dann der Reiz an diesem speziellen Genre? „Es ist irgendwie verbotener, man sieht zwei schöne Jungs“, so Sanela grübelnd. Seit frühester Kindheit war sie fasziniert von der Welt der Comics. Es begann mit einer Liebe für Disney-Filme wie „König der Löwen“ oder „Aladdin“ und sie las gerne das „Lustige Taschenbuch“.

Sanela Dragutinovic
Sanela zeichnet seit frühester Kindheit und hat ihren Stil echt-japanisch gehalten.

„Ich war kein typisches Mädchen.“

„Ich kann mich noch gut an meinen ersten Tag in der Volksschule erinnern. Meine Großmutter begleitete mich und ich muss gestehen – ich übergab mich vor Nervosität“, lacht Sanela. Im Laufe der ersten Tage merkte sie, dass die anderen Kinder mit ihr wenig zu tun haben wollten. „Ich war halt ein bisschen dunkler als die anderen Kinder und auch das Misstrauen der Lehrer übertrug sich auf sie“, erinnert sie sich. Sie begann sich in der Schule mit dem Zeichnen zu beschäftigen. „Ich war kein typisches Mädchen, ich bin ja mit Brüdern aufgewachsen, habe auch gern Videospiele gespielt.“ Später, auf der Hauptschule, wollte sich eine Freundin mit ihr „Sailor Moon“ ansehen. Die Serie zählt heute zu den japanischen Exportschlagern schlechthin. Mit einem Umfang von 200 Episoden in fünf Staffeln hat der zugehörige Anime auch im Westen seit den 90er-Jahren Kultstatus. „Ich dachte zunächst, so etwas Dummes schaue ich mir nicht an, das ist mir zu weiblich. Aber dann bin ich total in die Serie eingetaucht.“ Sanelas Vorliebe für Mangas und Animes war geboren.

Mit dem „Comic Treff“ verbindet Sanela Dragutinović besondere Erinnerungen. „Ich hab‘ mein Taschengeld in der Schule nicht für Essen ausgegeben, sondern habe bis Freitag gespart und bin dann mit dem Geld genau hier hergekommen!“, erzählt sie stolz. Im Geschäft werden sowohl klassische Comics als auch Mangas verkauft. Sanela blättert durch einige Bände und sieht beim Fotoshooting nebenbei nach den neuesten Erscheinungen. Was ist speziell an Mangas faszinierend, frage ich sie. „Mangas erzählen einfach andere Geschichten und beziehen Fantasy-Inhalte auf eine ganz andere Art ein. Und natürlich ist der Stil für mich als Zeichnerin sehr schön“, erklärt sie. Sammeln tut sie immer noch. Laut ihren Angaben sollen sich über 600 Bände von Mangas, Comics und Graphic Novels in ihrer Wohnung befinden.

Das Ideal eines schönen, jungen Mannes

„Ich weiß nicht, ob meine Eltern jemals meine Mangas durchgeblättert haben. Falls ja, kann es auch sein, dass sie dachten, dass eine der männlichen Figuren doch ein Mädchen ist“, sagt sie. Bestimmend für das Genre des „Shōnen Ai“ ist die Darstellung von makellosen, androgynen, jungen Männerfiguren, was in Japan „Bishōnen“ (schöner Junge) genannt wird. Die Protagonisten werden androgyn und idealisiert dargestellt – dieser Stil entwickelte sich in den 70er Jahren mit den Looks von international bekannten Glam Rock Idolen wie David Bowie. Auch soll angeblich der schwedische Schauspieler Björn Andrésen durch seine Rolle als Tadzio in der berühmten Visconti-Verfilmung von Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ in Japan berühmt geworden sein und mit seinem Aussehen den Typus des Bishōnen maßgeblich geprägt haben. Homoerotische Mangas werden in Japan nicht nur in erster Linie von Frauen geschaffen, sondern auch überwiegend von Frauen konsumiert. Das Spektrum des Genres der „Jungenliebe“ reicht von „harmlosen“ Darstellungen mit Umarmungen und Küssen bis hin zu expliziten Darstellungen, in denen auch der Geschlechtsakt dargestellt ist. Im letzteren Fall spricht man von sogenannten „Yaoi“-Mangas. Als Künstlerin bewegt sich Sanela eher in der milderen Form „Shōnen Ai“, wohingegen sie als Konsumentin auch durchaus bis ans extreme Ende des Spektrums geht.

Björn
Björn Andrésen war erst 15 Jahre alt, als Lucio Viscontis Verfilmung von „Der Tod in Venedig“ erschien. Wie diese Rolle sein Leben veränderte, behandelt der 2020 erschienene Dokufilm „The Most Beautiful Boy in the World“. © R©Roger Viollet/picturedesk.com

„Wenn ich solche Mangas lese, fasziniert mich, was für ein Bild von Männerliebe die Zeichnerin wohl im Kopf hatte. Man muss wissen – diese Mangas haben mit ihren Geschichten und Bildern immer sehr wenig mit der Realität von Homosexuellen zu tun, sondern sind viel mehr eine Projektionsfläche für das eigene Verlangen“, so Sanela. Die Künstlerin, die nebenbei als Supermarktangestellte hinter der Feinkosttheke steht, macht keinen Hehl daraus, dass sie auf feminine Männer steht. „Ich kann mich aber von den Mangas abgrenzen und verstehe die Realität. Wenn man sich zu sehr von diesen Darstellungen vereinnahmen lässt, kann man schon leicht verzerrte Vorstellungen von Beziehungen und Sex bekommen.“ In Japan, der Heimat der Mangas, geht das Phänomen bereits so weit, dass viele junge Menschen bis in ihre 30er keine Beziehungen führen, oder lange Jungfrau bleiben. Lebensechte Silikonpuppen boomen unter jungen Männern, die sich sexuellen Aktivitäten im echten Leben entziehen. Der echte Körper ist fehlerhaft, ganz im Gegenteil zu den makellosen Darstellungen in Mangas und Animes. Das Geschäft mit so genannten „Partnern auf Zeit“ und sogenannten Kuschelhotels boomt. Infolgedessen bleibt die Heirats- und Geburtenrate sehr gering – die Gesellschaft überaltert. „Das ist natürlich auch eine ganz andere Kultur als die, mit der ich aufgewachsen bin“, erklärt Sanela.

Sanela Dragutinovic
Erotische Darstellungen mit Oktopussen - beziehungsweise mit deren Tentakeln - waren schon in erotischen Shunga-Zeichnungen aus dem 17. Jahrhundert heiß begehrt. ©Sanela Dragutinović

Unterstützung durch die Eltern

Sanela Dragutinović ist im Vorstand des ersten Roma-Frauenvereins „Vivaro“ und zeigte zuletzt 2019 in ihrer Ausstellung „diversity* Manga“ ihre Werke. Sie fertigt händisch Zeichnungen an, die sie dann digital mittels eines Bildbearbeitungsprogramms koloriert. Früher habe sie Copic-Stifte dazu verwendet. „Einer dieser Stifte kostet etwa 7 Euro. Das ist schon sehr teuer.“ In der Hobby- und Profiszene sind Stifte von Copic immer noch der Marktführer, obwohl viele „Mangaka“ (MangakünstlerInnen) auf digitales Zeichnen setzen. „Ich hatte das Glück, dass meine Eltern mein Hobby gerne unterstützt haben – anders als bei meinen Freundinnen. Ich kannte eine, die nur mit Bleistift auf Druckerpapier gezeichnet hat, weil alles andere finanziell nicht ging und sie strenge Eltern hatte“, erzählt Sanela. Sie besuchte nach der Hauptschule einige Zeit lang die Graphische – wechselte aber bald auf eine Höhere Schule für chemische Berufe. „Das Klima auf der Graphischen war sehr rassistisch. Die Lehrpersonen haben mich ignoriert und blöde Kommentare abgelassen, wenn ich Fragen hatte. Ich war ein wenig naiver als die anderen, sah ganz anders aus und ich war auch damals nicht typisch weiblich. Ich glaube, dass man dort nicht wusste, was man mit mir anfangen sollte. Es war auch eine andere Zeit als heute natürlich“, erinnert sich die 36-Jährige.

Zwischen Supermarkt und Zeichentisch

Beim Posieren im geschichtsträchtigen „Comic Treff“ schweift Sanela gerne ab. „Entschuldigt, ich bin so abgelenkt von den ganzen Comics hier. Ich habe jetzt wegen Corona öfter im Internet bestellt und freue mich, im Laden zu sein.“ Die Freude ist ihr anzusehen. Die Zeichnerin hat im vergangenen Jahr ein Stipendium der Initiative „Kültür Gemma“ erhalten und plant momentan eine Ausstellung über ihr Empfinden in der Corona-Pandemie. „Ich bin ja auch Supermarktangestellte. In meinem Projekt möchte ich die Kundschaft abbilden und dazu die Produkte auf ihren Kassabons miteinbeziehen“, so Sanela. Angesetzt ist die Ausstellung nach einigen Verschiebungen auf das kommende Jahr 2022. Sie zeichnet am liebsten nachts – was mit dem Frühaufstehen in ihrem Job manchmal unvereinbar ist. „Ich vermisse die Zeit, in der ich mich noch tage- oder wochenlang zuhause einsperren konnte und mich nur aufs Zeichnen und aufs Spielen von Videospielen konzentrieren konnte!“, schwärmt die Wienerin. Sanela hat noch einen weiteren großen Plan: „Ich möchte endlich eine ganze Geschichte zeichnen“, so die Künstlerin.

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