„Mein Buch ist keine Anleitung für den Ausbruch aus einer konservativen Familie.“

20. Oktober 2023

Als Tochter einer muslimischen Familie im Gemeindebau aufgewachsen, konnte sie sich weder mit der Religion noch mit der Community identifizieren. Was folgte, waren jahrelange Auseinandersetzungen mit der Familie, dem Umfeld und allen voran mit sich selbst: 

Auf knapp 220 Seiten beschreibt biber-Redakteurin Nada Chekh in ihrem Debüt „Eine Blume ohne Wurzeln“ offen und ungeschönt ihren Weg: über das Doppelleben, das sie als Jugendliche führte, über mentale Struggles, kulturelle Moralvorstellungen, über Rebellion, über Hin-und Her-Gerissenheit mit der Familie, die Frage der Zugehörigkeit und im Endeffekt auch über eine Versöhnung.

 

Interview: Aleksandra Tulej, Fotos: Zoe Opratko

 

BIBER: Nada, wir sind seit sechs Jahren Kolleginnen, du hast in Artikeln, Texten und Podiumsdiskussionen immer wieder die Community, in der du aufgewachsen bist, angeklagt. Nachdem ich dein Buch gelesen habe, hatte ich den Eindruck, dass es dann doch eine Versöhnung gab mit deinem Aufwachsen, mit deiner Familie. Du setzt dich auch mit den Wurzeln deiner Eltern auseinander, es ist auch eine Art Legitimierung dessen, was du früher beklagt hast. Was siehst du jetzt anders als vor einigen Jahren?

Nada Chekh: Das war in der Tat so. Das Schreiben an dem Buch hat viele Knoten gelöst. Ich hätte mir keinen Therapeuten leisten können, der das mit mir geschafft hätte, was dieses Buch mit mir gemacht hat, und zwar habe ich auf eine Art und Weise wirklich inneren Frieden gefunden. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich jetzt mittlerweile einige Jahre älter bin und dieser ganze Kampf, den ich führte, jetzt schon fast zehn Jahre zurückliegt. Ich hatte in der Zwischenzeit sehr viele Gelegenheiten, mich wieder meiner Familie anzunähern. Das klappt mal besser, mal weniger gut: Mit meinen Eltern funktioniert das sehr gut, mit zweien meiner insgesamt vier Geschwister habe ich seit bald zwei Jahren eigentlich gar keinen Kontakt.

Du schreibst in deinem Buch sehr ungeschönt über mentale Struggles, die du in deiner Jugend hattest: Selbstverletzung, Krankenhausaufenthalt, Antidepressiva. Ist das das erste Mal, dass du mit diesen Themen an die Öffentlichkeit gehst? Ich habe die Szene im Kopf, als du nach einem heftigen Streit mit deiner Familie paradoxerweise in dem Krankenhaus gelandet bist, in dem dein Vater gearbeitet hat.

Ich verstecke meine Narben nicht mehr aber ich habe mit mir selbst gehadert, ob ich so offen darüber schreiben soll. Es war nun mal ein sehr großer Teil meiner Pubertät, der jahrelang meinen Gemütszustand und mein Leben bestimmt hat. Die Selbstverletzung war für mich ein Ventil, weil ich keine Kontrolle über meinen eigenen Körper hatte, über meine Sexualität oder darüber, wie und wann ich mich frei bewegen konnte im Endeffekt war diese Aggression aber zu einem großen Teil auch gegen mich selbst gerichtet. All das erscheint mir heute aber schon sehr weit weg zum Glück. Ich denke aber, dass es vor allem vielen jungen Frauen so geht, deshalb sollte das kein Tabu sein.

Foto: Zoe Opratko
Foto: Zoe Opratko

 

Du bist in einer Community aufgewachsen, der du dich nicht zugehörig gefühlt hast. Du hast, wie du selbst schreibst, ein Doppelleben geführt. Kannst du heute du selbst sein und wo fühlst du dich zugehörig?

Niemand kann in der Öffentlichkeit so sein, wie er zu Hause ist (lacht). Aber ich habe heute endlich die Bewegungsfreiheit und finanzielle Unabhängigkeit, die ich mir so lange gewünscht habe.

 

Du schilderst viele sehr persönliche Erlebnisse, unter anderem auch deine jahrelangen Auseinandersetzungen mit deiner Familie, die Missstände daheim, die Tabus. Werden deine Eltern dein Buch lesen? 

Sie werden es auf jeden Fall versuchen, aber ich habe meine Eltern noch nie ein Buch auf Deutsch lesen gesehen (lacht). Im Ernst: Ich denke, dass da einerseits eine Sprachbarriere da ist, andererseits verstehen sie nicht immer, was ich mit meinen Texten ausdrücken will.

Es gab nur einen Deal. Meine Eltern haben zu mir gesagt: Schreib, was du willst, wir werden nicht für immer hier sein. Aber deine Geschwister werden dich noch dein Leben lang begleiten, denk bitte auch an die.“

 

 

Von wem wird Kritik zum Buch kommen?

Natürlich habe ich die Sorge, dass das Buch verrissen wird. Deshalb betone ich schon im Vorwort: Ich erzähle meine persönliche Geschichte. Mein Buch ist bitte keine Anleitung zum Ausbruch aus einer konservativen Familie.

 

Du beschreibst auch viele schöne Erinnerungen an deine Kindheit und Jugend, so schreibst du beispielsweise sehr respektvoll über deinen Vater. Welche Erlebnisse in deinem Aufwachsen sind dir besonders positiv in Erinnerung geblieben?

Es gab zuhause nicht genug Geld, um auf individuelle Interessen von uns Kindern einzugehen, wir haben im Gemeindebau auf engem Raum gelebt, Privatsphäre war ein Fremdwort. Trotz allem hatte ich eine sehr behütete Kindheit. Ich weiß vor allem, was für ein riesengroßes Privileg es ist, eine gute Vaterfigur in seinem Leben zu haben. Mein Vater ist mit uns Mädchen im Sommer, immer wenn er Zeit hatte, ins Freibad gegangen, hat mit uns geblödelt und gespielt. Er entspricht nicht dem Stereotyp des distanzierten, verhaltenen, arabischen Vaters, wie ich es in meinem Umfeld bei anderen Familien erlebt habe. Er hat auch bis zur Pension als diplomierter Krankenpfleger gearbeitet, was lange Zeit ein typischer Frauenberuf war ich verbinde bis heute den Geruch von Desinfektionsmittel mit ihm, auf eine sehr positive Art und Weise.

 

Thema Religion: Du bist keine praktizierende Muslima, dennoch hat Religion lange dein Leben bestimmt aber war es wirklich die Religion oder eher die Kultur, die mit der Religion legitimiert wurde?

Ich glaube, das kann man gar nicht so leicht trennen. Gerade bei Muslimen gibt es eine große Identifikation mit der Religion im Alltag der Koran stellt ja ein Regelwerk da, das alle möglichen Lebensbereiche beeinflusst. Meine Erziehung und die Traditionen zu Hause waren sehr religiös geprägt. Diese Codes, die man zu befolgen hatte, wenn du als Tochter in so einer Familie aufwächst, bedeuten dir: Du sollst fromm und unterwürfig sein und nicht von dir reden machen. So gesehen ist auch vieles davon kulturell verankert. Das hat mich sehr lange begleitet.

Foto: Zoe Opratko
Foto: Zoe Opratko

 

ttest du dir gewünscht, dich mehr mit deiner“ Community zu identifizieren?

Ich glaube, das hätte einiges einfacher gemacht (lacht). Aber was heißt denn überhaupt, sich mit einer Community zu identifizieren? Ich habe heutzutage gar keine arabischen Freunde, was ich einerseits sehr schade finde. Aber für mich ist diese Zugehörigkeit weniger mit der Herkunft verbunden als mehr mit bestimmten Bubbles. Ich fühlte mich immer schon unter Nerds und Geeks am wohlsten.

 

Du hast einen orthodoxen Russen geheiratet lange gab es deshalb auch Diskussionen mit deinen Eltern, weil sie nicht zu eurer Hochzeit kommen wollten, da er einen anderen Glauben hat. Im Endeffekt waren sie dort. Wie kam das? 

Bis wenige Wochen vor dem eigentlichen Trauungstermin wusste ich nicht, ob meine Eltern zu meiner Hochzeit kommen würden, was mich sehr mitgenommen hat. Ich habe ihnen dann als letzten Ausweg ein Ultimatum gestellt und ganz scharf gesagt Wenn ihr nicht zu meiner Hochzeit kommt, komme ich auch nicht zu eurem Begräbnis.“ Sie haben sich im Endeffekt damit abgefunden, dass es für sie wichtiger ist, mich in ihrem Leben zu behalten, als wegen ihrer eigenen Überzeugungen den Kontakt abzubrechen. Meine Mutter sieht auf vielen der Hochzeitsfotos zwar so aus, als würde sie auf einer Beerdigung stehen aber vielleicht lag das auch eher daran, dass sie zum ersten Mal mein riesiges Rückentattoo gesehen hatte (lacht). Das Wichtige ist, dass sie dort war.

 

Wenn die 19-jährige Nada dieses Buch lesen würde, wie würde sie reagieren?

Ich glaube, sie hätte es sehr gerne gelesen, und zwar, weil mir in meiner Jugend genau solche Geschichten gefehlt haben. Man kann das blöd finden oder nicht, aber wenn du jemanden siehst, der eine ähnliche Geschichte hat wie du, dir auch noch ähnlich schaut, dann kannst du dich viel besser damit identifizieren. Ich bin mit amerikanischen High-School-Filmen und Büchern aufgewachsen, die niemals meine Lebensrealität widerspiegelt haben mir haben einfach Vorbilder gefehlt und ich hoffe, dass ich zumindest für andere eines sein kann.

 

 

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