EM-Journal ´08 Deutschland - Türkei "Unglück"

26. Juni 2008

Es gab bei der Euro schon einige Spiele, deren Ausgang nicht dem Spielverlauf entsprochen hatte: die beiden ersten Matches der Schweiz etwa oder Italien gegen Rumänien, von heimischen Hoffnungen einmal ganz abgesehen. Irgendwie hatte ich da aber nicht dieses Gefühl von Unglück, das heute im kollektiven Gewitterhimmel von Basel und Wien herunterrasselte. Dem Unglück, dass die Mannschaft, die es verdient gehabt hätte, nicht belohnt wurde.

 
SF1: Das Unglück der einen = das Glück der anderen. von Martin Blumenau
  Denn dieses absurde Spiel begann so, wie keiner gedacht hatte: Die durch Sperren und Verletzungen auf ein Häufchen des letzten Aufgebots geschrumpfte Mannschaft von Fatih Terim, die an einigen Ecken aus allen Fugen krachte, ging ins Spiel wie ein Favorit, der seinen Kontrahenten gleich ins Eck drängen will; während der deutsche Gegner mit pomadiger Kleinmut am Werk war - etwas, was man jemanden zutraut, der von vornherein nicht an seine Chance glaubt, und deshalb ein wenig ängstlich verzögert.
 
 
Völlig verkehrte Vorzeichen also.
 
Ehe die in Bestformation und aus den guten Spiel gegen Portugal gestärkte Löw-Truppe nämlich ihren ersten zusammenhängenden Angriff vortrug (in der 17. Minute) musste ihr schon fünfmal hinten zurecht Angst und Bange werden.

Fünfmal waren die Türken nach dem ziemlich exakt gleichen Rezept extrem gefährlich vor Lehmanns Tor aufgetaucht. Das Rezept lautete: Über die starken Außen bis zur Grundlinie vorgehen und dann in den Rücken der Abwehr spielen. Der Hintersinn: Die im Flachpassspiel immer hölzern wirkenden Innenverteidiger Mertesacker-Metzelder blöd aussehen lassen.
Diese Taktik bedeutete hohes Risiko, denn Terim musste davon ausgehen, dass seine Leute (Ugur ziemlich alleine links, und das Triangel Sabri, Hamit und Kazim rechts) die defensiv bislang sehr starken Herren Friedrich und Lahm ausspielen können würde. Damit war nicht zu rechnen, ehrlich nicht, reines Harakiri sowas.

Dass Philip Lahm dann aufgrund dieses Drucks die meiste Zeit des Spiels hinten herumlief wie ein Huhn, dem man gerade den Kopf abgeschlagen hatte, damit konnte niemand rechnen.
Dass es just der nämliche Lahm war, der dann den Ausgleich vorbereitete und den Siegestreffer erzielte, ist dann wiederum ein Zeichen unbändiger Kraft dieses kleinen Mannes. Und aller Ehren wert.

 
 
Deutschland sah unter dem genannten Druck
  nicht so schlecht aus wie im Spiel gegen Kroatien, wo man auch ein wenig wie ein Traummanderl herumstolperte, als würden die Kicker die Playstation suchen, wo sie dann ihr FIFA-Spiel abrufen könnten. Diesmal sahen sie noch schlechter aus, weil es so wirkte, als hätte man keinen Respekt vor einem Gegner, der sein Team aus den letzten Winkeln zusammenflicken musste.

Die Türken hatten im fünften Spiel die fünfte neue Innenverteidigung, nach drei Ausfällen diesmal mit einem kurzfristig umgeschulten Mittelfeld-Akteur, Mehmet Topal. Dazu ein völlig neu zusammengestoppeltes Mittelfeld. Und trotzdem waren sie von Anbeginn an im Spiel, das die deutschen Akteure wie Fremde durchstreiften.
Es war ein wenig wie in einem Zombie-Film.

Dass das Führungstor auch wieder durch einen Retourball von der Grundlinie entstand - war fast schon aufg'legt. Dass die Deutschen dabei wie Zombies herumstanden ebenso.
Dass der erste vernünftige Gegenangriff in einer 5gegen4-Überzahl dann zum unverdienten Ausgleich führte, entstammt immer noch demselben Drehbuch - in diesem Fall war es der noch vorhandene Automatismus der Körperfresser-Zombies Poldi und Schweini.
Nein, im Ernst, da wirkte es sich aus, dass Topal kein Verteidiger ist, so wie er da in den entscheidenden Zweikampf ging - der böse Servet (leider verletzt) hätte die Wuchtel da einfach weggehaut.

 
 
Ist D jetzt im Spiel?
  hab ich nach diesem Tor notiert.
Die Antwort dann nicht mehr: Nein, auch weiterhin nicht. Es gibt zwar noch eine gute Aktion, auch wieder über die Poldi-Laufmaschine - der Druck und die Gefahr kam von den Underdogs, deren Namen die Experten immer noch nicht kannten bzw. aussprechen können.

Das ist im übrigen dann besonders unverständlich, wenn sich beim normalen Fan beim jetzt fünften Spiel eines Teams ja langsam so eine Art Big Brother-Phänomen einstellt: Man kann jetzt bei der Hymne bereits alle Spieler identifizieren (bis auf den einen Neuen, den blonden 18er bei den Türken) und erkennt anhand von kleinen Handlungen bereits ob einer besser oder schlechter drauf ist.

Deutschland ist die ganze erste Halbzeit nicht im Spiel, unsicher. Sie sehen aus wie Simon Rolfes, der, als er nach einem behandelten Cut zurückkommt aussieht wie Rocky Balboa, nein, wie ein blonder Junge, den Rocky Balboa verdroschen hat.

Es ist Lahms erste wirklich beschissene Halbzeit in diesem Turnier und die erste, in der Kazim die in ihn gesetzte Hoffnung auch bestätigt hat. Und das Duell beider scheint ein zentraler Faktor zu sein.

 
 
Pause.
  Man ist allerorten entsetzt über die deutsche Inaktivität und erfreut überrascht über das unerwartete türkische Mitspielen.
Das deutsche 4-2-3-1 funktioniert gar nicht, weil die Mittelfeld-Zentrale von Terims aus der Not geborenem 4-1-4-1 konterkariert wird, weil Ballack oder Klose unsichtbar sind.

Dann startet die zweite Hälfte und Schweinsteiger setzt eine Duftmarke - aha, Löw hat die Zombies in den Kasten gesperrt und das echte Team rausgeschickt, danke!
Leider ist es heute nicht viel besser drauf als die Vertreter vor der Pause. Dann fällt Lahm hier und Kazim dort, es kommt Hektik auf, Karten und Pfiffe und Hitzl-Fernschüsse und dann gewitterts in Basel und das Bild fällt aus für drei Minuten und es zeigt sich, dass der ZDF-Kommentator nie beim Radio war und eine hundeelende Reportage abliefert.

Ich hab' knapp vor dem ersten Ausfall, in der 56. Minute notiert: entscheidende Phase jetzt. Irrtum, mein Lieber.
Denn auch danach sind die Deutschen nicht im Spiel, lassen sich auf die Flügel drängen als wären sie die Portugiesen von vor vier Tagen und versickern dann dort. Aber die Türken bereiten sich in dieser Phase dann allzu sehr auf ichweißnichtwas vor, anstatt zuzustoßen.
Erst ab der 73. Minute geht dann wieder was, bis
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Sendeausfall
 

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Sowas hat man lange nicht gesehen, so schön, so schön!!! Auf ein Bild starren, das es nicht gibt, zwischen ORF1 und ZDF (und auch der ebenfalls ausgefallenen Hausleitung hier im Funkhaus) hin und herschalten und nichts sehen und ein bisserl was hören. Dann den kompletten Sat-Absturz des ZDF (der offenbar im Funkhaus, wo ich das Spiel gesehen habe, von längerer Dauer war als draußen in der Welt; Anm. vom nächsten Tag) erleben, den krachigen Hörfunk-Handy-Kommentar des ORF, sowas hat man lange nicht gesehen, so schön, so schön!!!
Dass dazu im Hintergrund wieder einmal die Welt untergeht, unwettermäßig, alle Fenster scheppern und es draußen frischt wie bei einem Sturm auf hoher See - olé!

 

mehr auf fm4.orf.at/blumenau/223071/main

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