EM-Journal ´08 Tag 14

22. Juni 2008

Dass dieses Ottakringer Viertelfinale von Wien kein sensationell hochklassiges Spiel war, dass es aber aufgrund des Spielverlaufs unglaublich spannend war, das haben alle gesehen.

Dass es wenigstens ein Team meiner kleinen Lieblingsgruppe A geschafft hat und, dass das kroatische Team, das mich in den beiden Spielen, die ich gesehen habe, nie wirklich überzeugt hat, aus dem Turnier geht, das stellt mich zufrieden.

Die Türkei als deutscher Klon

Dass man jetzt euphorischen Jubel hören und elegische Sätze hören möchte, liegt sicher in der Natur der Sache. Damit kann ich aber nicht dienen (naja, ein bißchen gelogen, man wird meine Freude übers Ergebnis schon durchlesen; mehr als gestern, wo man zwar objektiv nicht herummäkeln konnte, das Herz aber nicht gut bedient wurde).

Denn die entscheidende Frage nach diesem Spiel ist: warum verlief es solange so ausgeglichen, warum waren die als Außenseiter gehandelten, von ihren vielen Entscheidungsspielen ausgepowerten und von vielen Verletzungen gezeichneten Türken dann doch die meiste Zeit über diejenigen, die handelten (der Großteil der 1. Halbzeit und die gesamte Verlängerung gehörte ihnen) und warum waren die als deutlicher Favorit bezeichneten Kroaten so wenig vorhanden?

Die Antwort hat mit Taktik und Strategie zu tun - und zwar mit einem Punkt der gleich die gesamte Euro umfaßt.

 
 
Vor dem Viertelfinale von Martin Blumenau
  ließ sich nämlich Folgendes festhalten: die allermeisten der hier bei der Euro antretenden Mannschaften spielen (immer nach dem System das sie am häufigsten benutzten gerechnet) nicht mehr mit zwei Spitzen, sondern mit echten Flügeln (egal ob echte Außenstürmer oder angreifende offensive Mittelfeldspieler) oder zumindest einer hängenden Spitze, die um den einzelnen Center herumspielte.

Eine Spitze und Flügel gab es bei den Tschechen, den Portugiesen, überraschend auch (meist) bei den Österreichern, den Polen, den Rumänen, natürlich den Holländern, auch den Griechen, und den Russen ohne Arshavin.
Das angesprochene 4-4-1-1 kam von der Schweiz (notgedrungen, weil schnell ohne Stürmer), den Kroaten, den Italienern und den Russen mit Arshavin.

Das alte klassische 4-4-2 spielten nur die alten Schweden, und die Franzosen immer dann wenn gar nix ging. Und drei Aufsteiger: Spanien, Deutschland und die Türkei. Bis ins Viertelfinale.

Im gestrigen Spiel fiel dann auch der nette Herr Löw um und stellte auf das System um, das den Ansprüchen modernen Fußballs am besten entspricht: eine zentrale Spitze, die von zwei schnellen Außen flankiert wird - allesamt gefüttert von einem schnell umschaltenden Mittelfeld, unterstützt von einer schnell herausspielenden Verteidigung. Alle in hohem Tempo mit hoher Vertikalität.

Und heute packte auch Fatih Terim (der schon einmal was Ähnliches probiert hatte) auch eine völlig überraschende Variante aus. Anstatt seines angekündigten 4-4-2 kopierte er die Deutschen von gestern praktisch 1zu1. Und verstörte und überraschte damit einen Gegner, der sich damit genauso schwertat wie gestern Portugal mit den unerwarteten Deutschland.

 
 
Denn natürlich entwickelte sich
  über die Schaltstelle Luca Modric ein sehr gutes Angriffsspiel, vor allem über die Flanken. Srna war recht unendlich gefährlich, Pranjic und Rakitic über links detto.
Natürlich war die türkische Abwehr, im 4. Spiel mit der vierten unterschiedlichen Innenverteidiger-Paarung, noch dazu vor einem anderen Tormann, wackelig.
Natürlich hätte der Olic-Lattenkracher, wär er reingegangen, das Spiel in einer Richtung kippen lassen können, die der gegen Deutschland ähnlich gewesen wäre.

Die meiste Zeit verhielt sich das kroatische Team aber dann so wie in den beiden ersten Spielen: ein wenig teilnahmslos.
Und das mit einem Gegenüber, das sich in seinen beiden letzten, mit unendlich großem Herz geführten Spielen jeweils in den letzten Sekunden gerettet hatte; das ist gefährlich.

Der Unterschied dieses Ansatzes war bei Arda Turan und Tuncay zu sehen: beide wußten ab einem gewissen Zeitpunkt, dass sie aufgrund einer gelben Karte für das mögliche Semifinale gesperrt sind - und zerrissen sich deshalb vor Ehrgeiz ihr Team trotzdem dorthin zu befördern. Bei den Kroaten hab ich tendenziell wieder eher Spieler gesehen, die das Tempo gegen Ende dann nicht mehr wirklich halten wollten.

 
 
 
  Was sich Bilic draußen und Kovac drinnen dabei gedacht hatten, die Verlängerung mehr oder weniger herzugeben, so ziemlich gar nichts zu machen, das kann ich nicht verstehen. Das Bewußtsein objektiv die bessere Mannschaft zu sein allein, kann das nicht rechtfertigen.

Dass die Kroaten dann zwei Minuten vor dem Penalty-Shootout durch einen Nikopolidis-mäßigen Fehler von Rüstü für diese allzu blasse Vorstellung belohnt werden, das war für kurze Zeit Gewissheit, entpuppte sich aber nur als perfide Finte eines Drehbuchs, das sich dann doch am richtigen Leben orientierte: den Türken gelang der dritte Turnaround des Turniers und mit dem Glücksgefühl es doch noch ins Elferschießen geschafft zu haben, beendeten sie das dann - fast logisch - siegreich.

 
 
 
Um noch einmal auf Terims
 

speziell für dieses Spiel und seine Notwendigkeiten umgestellte Taktik zurückzukommen: so richtig griff das erst, als der den bislang noch nicht eingesetzten Ugur Boral für den völlig versagenden Kazim Kazim reinbrachte. Der hatte auf der rechten Flanke genau gar keinen Druck entwickelt. Danach wurde der schon erwähnte Arda rübergezogen und wirbelte rechts Staub auf, während Ugur links anbohrte.
In der Mittelfeldzentrale hatte der entscheidende Mann des Spiels, der schon zuletzt auffällige Hamit Altintop, das Heft in der Hand, als Doppel-6er neben Mehmet Topal (wie gestern Deutschland mit Hitzl und Rolfes); Tuncay, der Mann der alles kann (auch im Tor spielen, wir erinnern uns) wuselte im offensiven Mittelfeld.

Als Terim zehn Minuten vor Ende der regulären Spielzeit seinen zweiten echten Stürmer Semih brachte, macht er nicht den Fehler, diesen einfach neben Nihat zu stellen. Er zog Allesfresser Tuncay ein wenig zurück und ließ Semih um Nihat herumspielen (wie Cassano um Toni), hielt also sein 4-5-1 (im Offensivfall wurde das dann zum 4-3-3, manchmal gar zum 4-2-4).

Genauso wie die Deutschen gestern ließ Terim die Viererabwehr recht defensiv spielen - schließlich waren die wenigen kroatischen Angriffe nach der 1. Halbzeit fast ausschließlich über die Seiten vorgetragen.

Stattdessen wurde zunehmend einfach riskiert: in der Verlängerung etwa probierten die Türken jeden Ball direkt zu spielen, auch auf die Gefahr hinauf ihn zu verlieren - volles Risiko also.

mehr auf: fm4.orf.at/blumenau/223018/main

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