EM-Journal ´08 Tag 15

22. Juni 2008

Irgendwann in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag müssen sie sich an einer Bar zufällig getroffen haben - oder sie waren bewusst am Donnerstag in aller Frühe auf derselben Autobahn-Raststation: Jogi Löw, Fatih Terim und Guus Hiddink.

 

VF3: Der dritte Streich einer Verschwörung von Martin Blumenau
  Jungs, wird dann einer der drei gesagt haben, wir haben alle dieselbe Ausgangsposition, wir gehen als Außenseiter in unser Viertelfinale, gegen einen klaren Favoriten, eine spielerisch bessere Mannschaft. Was tun wir?
Und dann wird ein anderer gesagt haben: passt's auf, Kollegen, wir tricksen sie mit einer Taktik aus, die total auf sie hingedeichselt ist, mit einem System, das wir bisher nicht gespielt haben, und mit dem niemand rechnet.
Und dann wird der dritte gesagt haben: genau, so machen wir's, und zwar alle drei, hintereinander. Und wenn jemand fragt - wir kennen uns nicht. Wir siezen uns auch weiterhin, okay?
Okay.

Und genauso haben sie's gemacht.
Löw mit seinen Deutschen gegen die portugiesische Übermacht am Freitag.
Terim mit seinen Türken gegen die überlegenen Kroaten am Samstag.
Und heute dann auch Hiddink gegen die Nation, deren Denken er am allerbesten kennt, gegen den Turnier-Favoriten Niederlande.

 
 
Hiddink brachte große Opfer für seine Taktik.
 
Er ließ seine bislang vielleicht besten Trümphe, die Außenverteidiger Anyukov und Zhirkov recht weit hinten stehen, verbot ihnen allzu ungestüme Vorstöße, ließ sie die bislang so gefährlichen holländischen Außenstürmer aus dem Spiel nehmen. Sneijder (solang er außen war) und Kuyt in der 1. Hälfte, Robin van Persie und der junge Herr Afellay (warum da nicht Arjen Robben zum Einsatz kam, ich weiß es wirklich nicht...) in der 2. Hälfte hatten allesamt keinen Stich.

Dazu arrangierte Hiddink sein Mittelfeld neu.
Anstatt sich wie bisher zu fünft aufzufächern oder im letzten Spiel dort mit einer Viererkette zu agieren, ließ er seine diesmal nur drei Mittelfeldspieler recht zentral agieren, wie es sonst die Italiener tun. Damit erzielte er dort, in der Spielmitte, eine klare Überlegenheit.

Und vorne gab es drei Spitzen, den wuseligen Center Pavluchenko, dazu die hauptsächlich über links kommende Sensation Andrej Arshavin und rechts den Außenstürmer Saenko.
Mit Saenko nahm Hiddink Gio van Bronckhorst komplett aus dem Offensivspiel - und Arshavin verbrauchte auf seiner Seite mit Boulahrouz, Ooijer und Heitinga letztlich drei Gegenspieler.

Mit dieser auf den Kontrahenten exzellent abgestimmten Aufstellung und Strategie erzielten Hiddinks Russen bereits die gesamte Spielzeit über eine Überlegenheit, die sich dann vor allem in der Overtime ganz krass auswirkte.

 
 
Natürlich kam auch dazu,
  dass die Oranjes auch eine kollektiv schwachen Tag hatten.

Das Drama um Boulahrouz, das in dieser Mannschaft, die so viel Wert auf ihre Kinder und den familiären Zusammenhalt legt (wie vor allem nach dem zweiten Spiel gegen Frankreich deutlich wurde) natürlich besonders tragisch ankommt, hat mitgespielt. Der Mann selber war nicht mehr die tragende Figur der ersten Spiele, hatte noch dazu mit Gegenspieler Arshavin den schlimmsten Job des gesamten Turniers.

Dazu hatte das Innenverteidiger-Duo Ooijer-Mathijsen halt viel mehr zu tun als in allen drei bisherigen Spielen zusammen. Rafael van der Vaart, eigentlich als Spielmacher vorgesehen, kam nie in die Gänge.
Und so war zunehmend alles in der Hand von Wesley Sneijder, dem diese Verantwortung aber deutlich zuviel war.

Dazu noch das unglückliche Wechselhändchen von Marco van Basten, der mit Heitinga und Afellay nicht nur keine zusätzliche Wirkung brachte, sondern eher Ausfälle. Ja, und auch Van Persie wirkte blass.
Umstellung des berechenbaren Spiels seiner Elftal (und das war es ja, was Hiddink ausgenutzt hatte) brachte das alles nicht, van der Vaart war - als Sneijder endlich in die offensive Zentrale gezogen wurde - in der defensiveren Position im Mittelfeld nicht effektiv.

Genaugenommen klappte also gar nichts im holländischen Spiel.

 
 
Dass man erst sehen würde,
  was die Niederländer wirklich können, wenn sie einmal nicht in Führung gehen und dann elegant kontern würden, das hab ich hier bereits frühzeitig angemerkt.

Immerhin konnte die Mannschaft diesmal einen Rückstand wettmachen und rettete sich in dei Verlängerung. Auch weil die einzige echte Schwäche der Russen (so wie beim eigenen Team: die Innenverteidigung; ja auch wenn Kolodin da die bislang besten Weitschuss-Granaten der Euro gezündet hat) genutzt wurde.

Wirklich verdient war das nämlich nicht.
Die russische Mannschaft hatte das Spiel letztlich immer im Griff, war immer um eine Kante gefährlicher, hatte mehr Ballbesitz, war strategisch überlegen, drängten die Holländer aus ihrem gewohnten Flügelspiel in die Mitte, wo sie dann ihr Übergewicht im Mittelfeld geschickt ausnutzten.

Wenn dann die direkten, schnellen und technisch exzellenten Ballstafetten nach vorne losgingen, dann musste man sich kurz fragen, ob nicht die Weißen diese Holländer seien, von denen man soviel Tolles gehört hatte.

Und natürlich machte Andrej Arshavin dann auch noch den alles entscheidenen Unterschied. Mit der Wut der zwei verpassten Spiele im Bauch zeigte der Chef bei Zenit St. Petersburg, dass er auch der Chef in Hiddinks Konzept ist.
Und nur ein wahrer Chef lässt sich, wenn es taktisch nötig ist, auf eine Flanke stellen ohne zu maulen und erfüllt dort seine spielentscheidende Aufgabe.

 
 
Es gibt im Journalismus sowieso,
 

im Sportjournalismus aber im speziellen, etwas, was mich an den historischen Begriff der Geschichtsfälschung durch den Sieger erinnert.

Dass man nämlich ein Ereignis in der Nachbetrachtung aus der Perspektive des Resultats betrachtet.

Dass alles, was man während des noch laufenden und noch nicht beendeten Spiels (ähnliches gilt auch für politische Kämpfe oder kulturelle Erfolge), vielleicht gar noch anders eingeschätzt hat, weil das Momentum da einfach auch ein anderes war, dann nichts mehr gilt, weil es nimmer ins Muster passt, das das Resultat dann (scheinbar) vorgibt.

Mit diesem Trick, dem idealen Tool für schwache Charaktere und Menschen ohne Vertrauen ins eigene Urteil, fälschen Gewinner Geschichte.

Ich passe bei dieser Euro (keine Ahnung wieso, vielleicht weil ich unlängst länger drüber nachgedacht habe) auf wie ein Haftlmacher, dass mir genau das nicht passiert.
Deshalb mach ich auch Notizen während des Spiels, die genau den Zweck haben, dieses Momentum des Augenblicks widerzugeben um es dann nicht durch Resultats-Blendung zu verlieren.

Und bei diesem Spiel war es so, dass ich nie, von der ersten Minute an, das Gefühl hatte, dass sich das für die Holländer ausgehen würde.

 

mehr auf fm4.orf.at/blumenau/223039/main

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