Gib nicht auf, Bosnien!

03. April 2014

1992 flüchtete ich aus Bosnien und Herzegowina nach Österreich. 22 Jahre später begleite ich als Journalist Außenminister Kurz bei seinem Staatsbesuch in Sarajevo und stelle deprimiert fest: Mein Land braucht ein Wunder.

Von Amar Rajković und Dragan Tatić (Foto)

 

Sie stehen da in Anzug und Krawatte, blicken staatsmännisch in die Kamera, hinter ihnen weht die österreichische, ungarische und die bosnische Fahne. Es handelt sich um Österreichs Außenminister Sebastian Kurz, seinen ungarischen Kollegen János Martonyi und die drei Präsidenten Bosniens Nebojsa Radmanović, Bakir Izetbegović und Željko Komšić .

Ja, richtig gelesen, mein Geburtsland hält den Weltrekord, wenn es um die Zahl der amtierenden Präsidenten geht. Es gibt nämlich gleich drei! Und es musste schon das ehemalige K&K-Reich anrücken, damit die drei verfeindeten Volksvertreter ausnahmsweise gemeinsam den Raum betreten.

Seit den Bürgerprotesten im Februar bemüht sich die EU wieder intensiver um ihr Sorgenkind vom Balkan. Deswegen waren Kurz und Martonyi in Sarajevo angereist, um einen „neuen, kreativen Zugang“ zu fordern. Kreativität scheint der letzte Ausweg für einen zerrütteten Staat, der in einem Sumpf aus Korruption, Arbeitslosigkeit und Ethno-Proporz versinkt. Das Durchschnittseinkommen beträgt laut Weltbank 288€ im Monat, jeder zweite Bosnier hat derzeit keinen Job. Ja, Kreativität IST der letzte Ausweg.

 

Zu komplex

Schauplatzwechsel: Österreichische Botschaft, Sarajevo. Rund 50 Gäste sind zum Buffet-Abendessen gekommen. Das Motto des Abends: „Stärkung der Zivilgesellschaft.“ Jene Zivilgesellschaft, die Anfang Februar in den großen Städten wie Zenica, Tuzla, Sarajevo oder Mostar wütend auf die Straßen stürmte, um ihr Recht auf Mitbestimmung und gegen Korruption und Politik zu demonstrieren. Endlich erwachte der Bürger aus seiner notorischen Apathie und zeigte den Machtinhabern des Landes: „Es reicht!“

 

Einer davon ist Boris Brkan, 32 Jahre alt. Er fällt mir sofort auf, weil er keinen Anzug und dafür einen Drei-Wochen-Bart trägt. Der geborene Sarajlija (dt.: Einwohner Sarajevos) ist der Mitbegründer von „Zašto ne?“ (dt.: Warum nicht?), einer überparteilichen Bürger-Plattform, die auch maßgeblich an den Protesten im Februar beteiligt war. Die „NGO“ versteht sich als eine Jugend- und Friedensorganisation, die sich für das Ende der Wehrpflicht im Jahr 2001 einsetzte. Und da Bosnien aufgrund der undurchsichtigen politischen Lage wie geschaffen für Bürgerorganisationen ist, blieben die neun Gründungsmitglieder gleich beim Protestieren.

Es gibt ja genug zu tun. „Wir leben in einer gespaltenen Gesellschaft. Die Eliten bereichern sich, die Abspaltung schreitet voran, der Staatsapparat ist aufgebläht und komplex.“ Komplex - mit all seinen sinnverwandten Worten, wie „kompliziert“ oder „schwierig“, hörte ich einige Male während des 18-stündigen Kurz-Besuchs in Sarajevo. In jedem zweiten Satz. Sowohl die anwesenden Diplomaten, renommierte Politologen, als auch Kollegen von anderen Medien griffen gerne darauf zurück. Jedes „komplex“ versetzte mir einen Schlag in die Magengrube, mein Bosnien und Herzegowina ist also zu komplex.

 

Zu viel Land

Während Boris auf dem Balkon der Botschaft an einer „Walter“ (Anm.: Zigarettenmarke) zieht und sich an die Proteste erinnert, blitzen seine Augen auf. Zumindest für kurze Zeit. Ich horche auf. Es gibt doch noch Hoffnung! Boris erzählt, dass sogar Bürger aus der Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Srpska, mitgemacht hätten. Das sei der Beweis für einen überethnischen Protest. Die Zahl solcher Bürger ist zwar recht gering, aber vor zehn Jahren wäre diese Solidarisierung undenkbar gewesen. Das Problem ist, laut Boris, dass „der Großteil des Landes provinziell ist, Stadtbewohner eine Minderheit sind.“ Jetzt fängt er schon wieder mit Problemen an. Nicht schon wieder.

 

Wunderzeit

In der Zwischenzeit hat sich der prunkvolle Salon gefüllt. Bevor das fröhliche Netzwerken und Diskutieren um „komplexe“ und „komplizierte“ Dinge los geht, wenden sich der jüngste Außenminister der EU Sebastian Kurz, 27, und der älteste János Martonyi, 70, dem Publikum zu. Kurz unterstreicht die Wichtigkeit der Zivilgesellschaft und betont, dass Bosnien starke Reformen brauche. Er ist engagiert, trotzdem verbreitet sich keine optimistische Stimmung im Raum. Kein Aufbruch, keine Hoffnung. Im Gegenteil, alles ist zu komplex, zu kompliziert, zu festgefahren, ausweglos. Ja, wenn es um den derzeitigen Zustand meines Heimatlandes geht, sollte man schon ein Synonym-Wörterbuch verwenden, um nicht jedes Mal mit „zu komplex“ zu kommen. Oder gibt es doch Hoffnung?

Der ungarische Außenminister muss da schon im vorigen Jahrhundert graben, um eine positive Note zu setzen. Er habe ja schließlich niemals daran geglaubt, dass sich sein Land aus den Fängen der Sowjetunion lösen würde. „Aber“, so Martonyi, „es gibt Wunder.“  Ich glaube, im Fall von Bosnien muss es ein komplexes Wunder sein.

 

Film-Tipp: Bosnien und Herzegowina: Ein Wunder, das nicht glänzt

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