Out of AUT: "Lenin arbeitet nicht"

07. Juli 2010




Wo tanzen Nachtschwärmer in Ganzkörperlatex bis in das Morgengrauen hinein? Und wo bieten Marktfrauen ihre Waren auf dem Dixiklo an? In Russland natürlich. Dem Land der Gegensätze.

Von Olja Alvir

 

Ich steige aus dem Bus, und Russland heißt mich mit einem Schwall Wasser willkommen, den ein um die Kurve klappernder, alter Moskvić bei einem rasanten Sprung in ein Schlagloch verspritzt. Beim zweiten Blick schon (der erste gilt meiner durchnässten Kleidung) erkenne ich, dass ich mich hier auf etwas ganz Neues einstellen muss. Verdammt, und dann bin ich auch noch halbe Analphabetin. Ich beherrsche zwar die russische Sprache und kann Kyrillisch lesen, aber bei Weitem nicht so flink wie Lateinisch. Langsam also, Buchstabe für Buchstabe.

 




 




Die Häuser hier sind niedriger, schäbiger, mit liebevoll verzierten, manchmal aus Holz geschnitzten Fensterrahmen, die Autos veraltet und eingedellt, Marken, die mir auf den ersten Blick unbekannt sind. Es sähe trostlos aus, waren da nicht die  Bemühungen der Stadtverwaltung, das Stadtbild zu verbessern, indem man alles, was nicht weglaufen kann, neu streicht – Fassaden, Geländer, Straßenlaternen. Das Resultat: Es sieht aus wie mit dicker Glasur überzogen. Und dann noch die orthodoxen Kirchen mit ihren Türmchen und Verzierungen. Sie gleichen kleinen köstlichen Torten.

Neureichen-Haushalt

Ich besuche meine Freundin Anastasia, die in Rjazan (Рязáнь) wohnt, einer 
500.000-Einwohner-Stadt südöstlich von Moskau, die zum „goldenen Ring“ gehört, einer Reihe altrussischer Städte, die heute im Schatten der Hauptstadt stehen. Es schüttet, und selbst das teure, geräumige Auto von Anastasias Eltern (erste Anzeichen für den sozioökonomischen Status meiner Bekannten) hat Schwierigkeiten, sich durch die kleinen Seen, die sich in den Senkungen der Straßen gebildet haben, einen Weg zu bahnen. Zuhause angekommen bin ich mir ganz sicher: Ich bin in einem новый русский, einem Neureichen-Haushalt, gelandet. Zwar sieht das Gebäude nach Zwischenkriegszeit-Gemeindebau aus, doch dahinter erwartet mich eine riesige Wohnung, deren Einrichtung nach Schickimicki-Katalog aussieht – kühl, glasig, monoton
.

Beim Abendessen werden mir seltsame russische Spezialitäten aufgetischt, die anzuruhren ich mich kaum traue, was aber, wie ich vom Balkan weiß, nicht gern gesehen wird. Aus Höflichkeit und um mich aus der Affäre zu ziehen, gratuliere ich der Hausherrin zum vortrefflichen Kuchen. „Aus der Bäckerei“, meint sie mit einem verschmitzten Lächeln, wir sehen uns alle am Tisch an und verfallen in Gelächter – mein Sprung ins Fettnäpfchen hat also das Eis zwischen uns gebrochen. Ich interessiere mich für die Berufe von Anastasias Eltern. Mit Blick auf den Plasmabildschirm, frage ich, wie sie sich den Luxus leisten können.Ach, bitte“, winkt mich der Vater ab, „kaum der Rede wert.“ Man mochte also nicht darüber reden. Dabei ist ein solcher Lebensstandard in Russland nicht selbstverständlich. Kaum ein anderes Land weist eine so drastische Einkommensschere auf. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind einige Wenige (sogenannte Biznismeni) durch wohl fragwürdige Methoden zu viel Geld gekommen, während der Rest der Bevölkerung von der jungen Marktwirtschaft in eine Krise gestürzt wurde. Ein Sechstel lebt heute unterhalb der Armutsgrenze.

Von der Schulbank in die Disko

Anastasia besucht eine teure Privatschule, die vornehmste Schule der Stadt. Die Gänge sind in knallbunten Farben ausgemalt, die Räume mit Tapeten ausgestattetSternenhimmel im Physiksaal, Urwaldmuster fur Biologie, auf jeder Bank steht ein Laptop. Anastasias strenge, aber liebenswürdige Russischlehrerin erzählt mir, dass sie eigentlich schon lange in Pension sein sollte, doch ihre Rente – umgerechnet 200 Euro – reicht nicht aus. Sie geht täglich zu Fuß zur Schule, solange ihre Füße sie eben noch tragen. Auf ihrem aufgeräumten Lehrertisch thront eine Fotografie Putins, der liebevoll ein Pferd streichelt – fast so liebevoll, wie sie das Foto beäugt.

Abends macht sich Anastasia zwei Stunden lang zum Fortgehen fertig, nicht ohne dabei eine halbe Flasche Vodka zu trinken – dabei ist sie noch wesentlich junger als ich. Aufgemotzt, geschminkt und aufreizend gekleidet, verlässt sie endlich das Badezimmer. Ich komme mir seltsam neben ihr vor mit meiner Hose und meinem Schlabberleiberl. Ihr Vater bringt uns in die angesagteste Disko der Stadt und – Moment, ihr Vater kommt mit rein, jetzt gibt er seine Jacke ab, was ist denn jetzt los? Er setzt sich an einen Tisch und bestellt sich ein Mineralwasser.

Nastja, was macht dein Vater hier?“ „Na, er passt auf uns auf! Das macht er immer so. Wie komme ich sonst nach Hause?“ Tatsächlich, er wird die ganze Zeit alleine am Tisch sitzen, brav warten bis wir uns fertig vergnügt haben und uns dann nach Hause chauffieren. Irgendwie tut er mir leid in dieser ohrenbetäubenden, schrillen Disko, in der die Leute in weißen Ganzkörperlatex-Outfits ihre durchtrainierten Körper zu Eurodance verrenken. Ich kann mich nicht so recht entspannen in dieser befremdlichen Atmosphäre zwischen den Soldaten, die den viel zu jungen Mädchen schöne Augen machen, und dem Kichern von Anastasias Freundinnen, den Blick des Vaters immer im Rücken spürend.

Gewaltiges Russland

Bei einem Ausflug nach Konstantinovo, dem Geburtsort des Dichters Sergei Jesenin, steigen wir zum Fluss Oka hinunter. Es ist ein sonniger Tag. Eine altere Dame verkauft in der Einode Zwetschken fur ein paar Cent. Der Fluss zieht sich durch die Landschaft, mindestens so breit und braun wie die Donau. Man lässt den Blick schweifen und sieht nichts außer niedrigem Gewächs und totenstiller Landschaft. Plötzlich trifft es mich: Das ist alles Russland, Russland, soweit das Auge reicht und noch viel weiter hinaus! Ein Gefühl der Grenzenlosigkeit, das man empfindet, wenn man auf das Meer hinausblickt, überkommt mich. Noch hunderte Kilometer in diese Richtung, gar Tausende in die andere erstreckte sich dieses sonderbare Land. Es ist das größte Land der Welt.

In Moskau wohne ich in einem relativ schönen, aber trotzdem billigen Hotel im Stadtteil Ismailovo. Um mein Hotel herum liegt ein riesiger Markt, der Baustil erinnert mich an das Architekturverbrechen Praterhauptplatz in Wien. Hier gehe ich gerne spazieren. Ein Standbesitzer will mir Stamperl fur 400 Euro verkaufen; eine Frau hat ihren Verkaufsstand in einem Dixiklo eingerichtet. Prachtige U-Bahnstationen, sinnesüberfordernde Museen, sechsspurige Straßen in der Innenstadt, davon kann man in Reiseführern lesen. Mir hat am besten die Christ-Erlöser-Kathedrale gefallen, mit Abstand das Kitschigste, Überladenste und Bunteste, was ich jemals gesehen habe. Ein deutscher Besucher, der neben mir mit dem gleichen ungläubigen Gesichtsausdruck steht, bemerkt professionell, dass diese „Kirche unwahrscheinlich gut erhalten sei“ – kein Wunder, sie ist zehn Jahre alt, denke ich mir und verkneife mir ein Lachen. Zum Abschluss will ich meinen „alten Freund“ Lenin am Roten Platz besuchen, doch als ich ankomme, überrascht mich ein Schild mit der Aufschrift „Ленин не рабóтаéт“ (Lenin hat geschlossen). Ich muss schmunzeln – wörtlich übersetzt heißt es nämlich „Lenin arbeitet nicht“.

 

Bereich: 

Kommentare

 

köstlich! Danke!

Das könnte dich auch interessieren

Empowerment Special, Helin Kara, Zieh dich mal an wie eine richtige Fau
Oversized Klamotten sind voll im Trend...
Empowerment Special, Luna Al-Mousli, Sei netter zu den Österreichern
  Von Luna Al-Mousli, Fotos: Zoe...
Empowerment Special, Banan Sakbani, Wenn Blicke stärken
Banan Sakbani kennt das Gefühl, für ihr...

Anmelden & Mitreden

7 + 3 =
Bitte löse die Rechnung