Quo vadis Türkiye?

01. April 2014

Seit Monaten schon verfolgen wir in den Fernsehnachrichten, dass hochrangige türkische Politiker, darunter der Sohn des Herrn Premierministers höchst persönlich, ominöse Schuhkartons in ihren Wohnungen verstecken. Nicht lange hat es gedauert, da erfuhr die Welt, dass sich viel Geld in diesen Schuhkartons befindet. Anscheinend Schwarzgeld. Die Regierung ist höchst wahrscheinlich in korrupte Aktivitäten verstrickt. Nicht lange darauf, da konnte die ganze Welt mithören, dass Recep Tayyip Erdogan seinen Sohn Bilal dazu auffordert, das Geld raus zu schaffen. Das Geld im Schuhkarton. 

Peinlich berührt und voller Zorn, spricht Erdogan von einer Verschwörung gegen die Türkei, die sowohl im In- als auch im Ausland geschmiedet wird. Die gleiche Behauptung gab Erdogan im vergangenen Sommer von sich, als Landesweite Proteste gegen den immer autoritär werdenden Führungsstil Erdogans eskalierten. War das der arabische Frühling in der Türkei? Ein türkischer Sommer? Nach diesen Ereignissen und den Korruptionsvorwürfen gegen die Regierung, die schon russische Verhältnisse besitzen, wetteten meine Familien und Freunde, dass nun die Stunde der Abwahl der AKP-Regierung geschlagen hat. Denn die Menschen würden nun sehen, von was für einem Schurken sie regiert werden. Wer jedoch die Kommunalwahlen am Sonntag verfolgt hat, der wurde eines Besseren belehrt.

Erdogans Partei wurde sogar noch stärker, als bei den Kommunalwahlen 2009. Seine Anhänger standen weiterhin zu seinem "büyük usta" (großer Meister). Ein Laie würde in diesem Fall die Welt nicht mehr verstehen. Um ehrlich zu sein, kann ich mir vorstellen, dass sogar Experten vor einem Rätsel stehen. Denn anders als in Russland, Venezuela, Nordkorea oder Weißrussland ist die Demokratie in der Türkei weiterhin eine funktionierende. Berichte über eine Wahlfälschung gibt es in der gegenwärtigen Situation keine. Das wäre schon Mal eine Erklärung, die raus fallen würde.

Vielleicht, weil die gesamte Türkei einen niedrigen Bildungsstand besitzt? Schließlich haben alle türkischen Fernsehsender und Zeitungen über diese Schuhkartons berichtet. Welch ein Mensch lässt sich gerne freiwillig bestehlen? Eine sehr provokative Argumentation ohne empirische Nachweise. Außerdem ist es extrem Unwahrscheinlich, dass fast 45 Prozent der Wähler einen niedrigen Bildungsstand haben.

Es gibt tatsächlich eine nachvollziehbare Erklärung, die ich gerne darstellen möchte, jedoch ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Zum einen ist Politik in der Türkei kein Nervenbündel oder eine unangenehme Randerscheinung, so wie wir es in Europa kennen. Politik ist dort ein Volkssport. Fast jeder ist ein Anhänger einer Partei, so wie hier jemand ein Anhänger des FC Bayern oder Borussia Dortmund, von Austria oder Rapid Wien ist. Das fängt schon im Kindesalter an und setzt sich das ganze Leben fort. Überall, ob im Caféhaus, in der Teestube, im Restaurant, bei Freunden und Familien, ja sogar im Fitnessclub, werden politische Situtionen heftig diskutiert und die präferierte Partei hervorgehoben. Und in der Tat kann der AKP-Wähler mehr mit den Leistungen seiner Partei prahlen, als der CHP- oder MHP-Wähler. 

Die AKP, das muss man zugeben, hat in den letzten Jahren viel in das Land und seine Infrastruktur investiert und wirtschaftlich sowie gesellschaftliche Stabilität geschaffen. Straßen wurden gebaut, Hochgeschwindigkeitszüge in Betrieb genommen, Wohnkomplexe geschaffen und umstrittene Einkaufshäuser eröffnet. Wenn man das nun mit den Verhältnissen der letzten Jahrzehnten vergleicht, wo mehrere, ideologisch voneinander weit entfernte Parteien koalierten und alle Jahre wieder zerbrachen, wo Geldscheine im Umlauf waren, denen die Nullen fast schon raus fielen, weil sie nicht mehr drauf passten, wo bürgerkriegsähnliche Zustände das Istanbuler Straßenbild dominierten, wo politische Morde unter dem Teppich gekehrt wurde, wo sogar der Staat zum Teil mit der Mafia kooperierte, dann ist es nachvollziehbar, dass die Mehrheit der Türken ihre Stimme einer Partei anvertrauen, die vor 12 Jahren diesem Chaos ein Ende setzte. Die Korruptionsvorwürfe von heute erscheinen dagegen wie kleine Küken, die gerade aus ihren Eiern geschlüpft sind. Aus diesem Grund verzeihen die Türken ihrem "büyük usta", wenn er und seine Jünger mit Schwarzgeld gefüllten Schuhkartons in ihren Wohnungen verstecken.

Die Oppositionsparteien sind tief zerstritten und trauen sich nicht gegenseitig über den Weg zu laufen. Jede von ihnen hält ihr Weg für den einzig richtigen. Das Einzige was sie wirklich können, ist von ihren Wahlkampfbühnen aus gegen die Regierung zu pöbeln, ohne alternativen und Konzepte anzubieten. Das genügt nicht und verhilft Erdogan und seiner Mannschaft zu weiteren Jahren an der Macht. Sie strotzen nun voller Selbstbewusstsein, das schon fast in Arroganz übergeht. In seiner Siegesansprache kündigte Erdogan an, dass die "Gegner der AKP teuer dafür bezahlen werden." Das kann für eine Demokratie, die trotz Fehler noch funktioniert, nichts gutes bedeuten. Solche Worte kennen wir in der Regel von den Wladimir Putins und Kim Jong-Uns dieser Welt

Die vielen Stimmen, das hohe Vertrauen, die vergleichsweise wirtschaftliche Stabilität und die außenpolitische Schwäche der EU haben dazu geführt, dass die Türkei zu einem "autoritären Staat" nach russischem Vorbild wird, ohne dass die Demokratie abgeschafft werden muss, da sie von einer Mehrheit in der Bevölkerung unterstützt wird. Sieht so aus, dass Erdogan seinem "Heddef 2023" (Ziel 2023), die Türkei zu transformieren, immer Näher rückt.

 

Kommentare

 

" Berichte über eine Wahlfälschung gibt es in der gegenwärtigen Situation keine. "

Huch? Du hast anscheinend nicht die Berichte über die Terrorkatzen gelesen die systematisch in 40 umkaempften Staedten Stromausfaelle verursacht haben sollen. Auch das zur Zeit noch in mehreren Staedten darunter Yalova und Ankara neugezaehlt wird scheinst du übersehen zu haben. Und die im Mist gefundenen Stimmzettel mit Oppositionsstimen gehören ja auch schon zum Standard.

 

interessanter beitrag. danke. bist du aus deutschland? 

 

 

Richtig. Bin aus Deutschland, genauer gesagt aus Oberhausen (NRW). Habe gerade mein Politikstudium fertig gemacht und hatte ein wenig Zeit mir Gedanken über das Thema zu machen :-)

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