Zülfü Livaneli in Wien!

15. Oktober 2008

Wie bereits zuvor von mir angekündigt, sollte einer der berühmtesten türkischen Komponisten, Musiker und Schriftsteller in Wien sein Buch "Mutluluk" (dt. Glückseligkeit) vorstellen. Livaneli hatte bereits zuvor zahlreiche Auszeichnungen verliehen bekommen, sei es für seine Musik oder auch seine literarischen Werke. Diese Lesung heute, die in der Hauptbücherei im 3.Stock um 19:00 stattfand, beschränkte sich jedoch nicht nur darauf, dass ein Autor aus seinem Buch vorliest, sondern es wurde darüberhinaus auf die verschiedensten Themen eingegangen. Themen wie Ehrenmorde, Kurdenproblematik, Europäische Union, Emanzipation der türkischen Frau und die schleichende Islamisierung durch die führende Regierung wurden aufgegriffen.

Hier eine kurze Zusammenfassung:

1)im Buch "Mutluluk" treffen drei unterschiedliche Menschen aufeinander: Meryem, ein Mädchen aus Anatolien, das von ihrem Onkel- einem angesehenen Geistlichen- vergewaltigt wird, ihr Cousin Cemal, der frisch aus dem Militär ins Dorf zurückkehrt und gleich damit beauftragt wird,seine "ehrlose"Cousine nach Istanbul zu bringen um sie dort umzubringen und Professor Irfan, ein Intellektueller, der die Nase voll von der Istanbuler-"wannabe"Elite und seiner untreuen Frau hat und mit seinem Boot hinaus aufs einsame Meer flieht.

Hier wurde Livaneli gefragt, wie er es geschafft hat, sich in die Situation von Meryem zu versetzen. Daraufhin entgegnete er, dass ein guter Autor dazu fähig sein sollte, über seine Grenzen hinaus zu denken, also nicht nur biografische Aspekte niederschreiben, sondern genausogut in der Lage sein müsste, sich in Situationen reinzuversetzen, die er selber nicht erlebt hat.

Eine weitere Frage beschäftigt sich mit der Entwicklung, die Meryem bis zum Ende des Romans durchmacht, nämlich die einer selbstbewussten, jungen Frau, die sich als durchaus lernfähig und wissensdurstig erweist.

Livaneli sprach die Problematik der unterdrückten anatolischen Frau an, die unter der Männerherrschaft und der patriachalischen Struktur im Haushalt leidet und hält diese positive Entwicklung der Figur Meryem für keineswegs übertrieben. Livaneli ist davon überzeugt, dass viele intelligente Mädchen und Frauen ihr Potential nicht ausschöpfen können bzw. dürfen und dass somit viele verborgene Talente und Interessen verlorengehen. Immerhin, sagt er, werden die meisten Bücher in der Türkei von Frauen gekauft und gelesen und sie sind es auch, die verglichen mit ihren Männern, mehr Interesse an Politik zeigen.

2)Cemal beobachtet während seines Wehrdienstes wie kurdische PKK Rebellen ein Lehrerpaar erschießen und kann das Bild der verkohlten Leichen nicht aus seinem Gedächtnis löschen. Dagegen ist das Niederbrennen von kurdischen Döfern seitens der Soldaten für ihn zur Routine geworden.

Ein Zuhörer beklagte sich darüber, dass Livaneli hier sehr neutral bleibt und weder für die eine, noch für die andere Seite Partei ergreift.

Daraufhin lächelte Livaneli und sagte:"Du sitzt also seit einer Stunde umsonst hier und kennst mich eigentlich gar nicht. Jeder weiß mittlerweile, wie ich zu der Sache mit den Kurden stehe. Ich war ja nicht umsonst im Gefängnis und musste mich vor türkischen Gerichten verantworten. Meine Neutralität bezieht sich hier einzig und allein auf die Gewalt. Sobald es um Gewalt geht, ist es mir unmöglich Partei zu ergreifen, denn ich verabscheue Gewalt."

3)Professor Irfan ist ein Intellektueller, der die Wertlosigkeit der reichen Elite Istanbuls verabscheut und sich für ein anderes Leben, fernab jeder Heuchelei, entschließt.

Livaneli stellt die (Neu-)Reichen Istanbuls an den Pranger, deren einzige Beschäftigung es ist, einzukaufen und in teuren Lokalen mit ausländischen Namen zu speisen.

Diese Leute, so Livaneli, sehen sich gar nicht als Türken, sondern als zufällig in Istanbul gestrandete. Sie würden sich bewusst von der Normalbevölkerung abgrenzen und sich keinen Gedanken darüber machen, was die Situation und Zukunft des Landes betrifft und das, so Livaneli, sei ein Vergehen dem Staat gegenüber.

Außerdem sei Istanbul,entgegen der weit verbreiteten Auffassung, nicht die modernste Stadt der Türkei. Im Gegenteil, Istanbul sei ein großes Dorf, das im Laufe der Zeit eine hohe Zuwanderung erfahren habe. Die westlichsten und modernsten Städte seien unter anderem Izmir und  Eskisehir, aber auch in den kleinen Dörfern der Ägäis-Region, sind die Menschen sehr westlich orientiert und modern.

4)Politik: Türkei und die EU, Islamismus,Nationalsozialismus und das Bild der typisch türkischen Frau im Westen

(Anm.:aus Platzmangel hier sehr verkürzt dargestellt)

Livaneli schließt sich, was den Beitritt der Türkei in die EU betrifft, der Meinung Yasar Kemals an, der bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse vorgab, nicht mehr an das Friedensprojekt EU zu glauben. Allerdings ist sich Livaneli sicher, dass die Türkei, wäre sie gänzlich alevitisch, schon längst problemlos der EU beigetreten wäre. Aleviten seien ein friedliebendes, modernes Volk, das großen Respekt vor dem Leben und der Seele habe.

Schuld an der immer stärker werdenden nationalistischen und islamistischen Bewegung in der Türkei ist laut Autor das Militär selber, denn aus Angst vor den linken Studentenaufständen in den 70ern, habe das Militär diese nationalistischen und islamistischen Bewegung gestärkt und tut sich nun schwer, diese wieder loszuwerden.

Auch der Westen sei Schuld an dieser Negativ-Entwicklung, denn auch in Deutschland und Amerika wurden islamistische Organisationen gefördert und später in die Türkei transportiert.

Ein weiteres Problem in der türkischen Politik ist, behauptet der Autor und Musiker, dass es weder eine Mitte-links, noch eine Mitte-rechts gäbe. Österreich habe zwar diese zwei Hauptflüsse, jedoch zeichne sich sogar hier ein deutlicher Rechtsruck ab.

Livaneli zeigte sich erschüttert über das türkische Frauenbild, das sich in den westlichen Köpfen manifestiert hat: Eine türkische Frau mit Kopftuch, die 3,4 Schritte hinter ihrem Ehemann zu gehen hat. Daraufhin machte er auf ein Bild in seinem neuen Buch "Sevdalim Hayat" (dt. Meine Liebe, das Leben) aufmerksam. In dieser Autobiografie ist Livaneli im Alter von ca 3 Jahren auf einem Schwarz/Weiß Foto abgebildet,daneben seine Großmutter und Mutter. Beide Frauen ohne Kopftuch. "Dieses Bild," sagt er, "ist über 50 Jahre alt. Diese Frauen hier sind gläubige Türkinnen. Und die Türkinnen heute? Seht euch doch nur die Frauen des Premierministers und die des Präsidenten an! Repräsentieren diese wirklich die heutige moderne türkische Frau?"

Wie gesagt, dies ist nur eine kurze Zusammenfassung, die ich in der Euphorie nach der Lesung posten wollte. Dieser große, waise Mann hat nicht nur meinen heutigen Tag bereichert, sondern auch die letzten Jahre, in denen ich mich mit seinen Schriften, seiner Musik (die übrigens auch bei der Lesung abgespielt wurde) und seinen Texten in den Zeitungen beschäftig habe und das auch in Zukunft pflegen werde.

Schön, dass du da warst, lieber Ömer Zülfü Livaneli!

Kommentare

 

pffuuu Linda, ein sehr langer Text für die Uhrzeit;)
Ab ins Bettchen!!

 

...das ist auch nur eine kurze zusammenfassung ;)

 

trotz kurzfassug, hast du mir einen guten einblick verschafft. ich habe lust das aktuelle buch zu lesen.

 

...du wirst es nicht bereuen =)

 

Es war wirklich sehr schön und gleichzeitig ein bisschen traurig,dass er da war und so schnell wieder wieder weg ging. Es ist wirklich schade, dass die "große" und "wichtige" Menschen (zumindest für mich) so selten nach Wien kommen.

Danke Zülfü Livaneli, dass du mit uns warst!

 

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