Die Kinderfänger von Nepal

17. August 2015

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Nepal Kind Straßenkreide
Philipp Grüll

Krrk, krrk, krrrrrrrk. Die Malkreide kratzt über den Asphalt. Das eine Ende hinterlässt Linien, Buchstaben, Blumen und Gesichter. Das andere färbt kleine Hände neu ein. Die dazugehörigen Kinder stören sich nicht weiter dran, flitzen wie wild über die steinerne Leinwand und machen ihr zuhause sowie sich selbst ein Stück bunter. Ranjeeta (15, den Namen der Kinder habe ich auf ihren Wunsch hin abgeändert) fragt: „Philipp-Brother, darf ich ein Portrait von dir malen?“ Das Mädchen hat künstlerisches Talent, einige Stunden zuvor präsentierte sie mir stolz ihr Skizzenbuch voller selbst designter Kleider. In ihr schlummert eine Modeschöpferin. Doch um ein Haar wäre sie als Haussklavin geendet.

Ranjeeta und die anderen jungen Bewohner des Transitional Home in Kathmandu sind gerettete Kinderarbeiter. 

Nepal Access Transitional Home
Philipp Grüll

Sie haben ihre Heimat, Freunde und Verwandte seit Monaten nicht mehr gesehen. Und allesamt wurden sie von ihren Familien zur Arbeit geschickt. Unbewusst. Viele nepalesische Eltern leben von der Hand in den Mund, sie fürchten um die Aussichten ihre Kinder. Und diese Angst wirkt auf Betrüger wie Licht auf Ungeziefer.

Bühne frei für einen besorgten, meist männlichen, Wohltäter. Er bietet an, das Kind unter seine Fittiche zu nehmen. Große Chancen könne er seinen Schützlingen bieten. Sie werden eine Privatschule in der Hauptstadt besuchen. Sie werden in Amerika studieren. Sie werden die Karriereleiter emporklettern. Sie werden das Leben haben, das ihnen daheim verwehrt bleiben wird. „Mein Nachbar versprach mir sogar, er würde Land kaufen, damit mein Sohn Himal sich ein Haus bauen kann“, sagt Jaman Tamang. In den Eltern prügeln sich Herz und Hirn. Liebe gegen Schuldgefühle. Wer würde seinem Nachwuchs solch eine Chance verweigern? Sieg nach Punkten. Das Kind soll eine Zukunft haben.

Doch sobald die Kleinen im neuen Heim ankommen, platzt der Traum. Die vermeintlichen Gönner entpuppen sich als Kinderhändler. Sie geben die Jungs und Mädchen bei Arbeitgebern in Kathmandu ab. Nur selten ist dabei Geld im Spiel. Die Endkunden sind meist Verwandte, Freunde oder Vorgesetzte der Mittelmänner. Man tauscht Gefallen aus. „Es gibt immer irgendeinen Deal“, erklärt Gokul Subedi (30), Schutzherr des Transitional Home. „Einige Mittelmänner glauben tatsächlich, dass sie den Kindern helfen. (…) Die Arbeitgeber allerdings sind stets böse Menschen.“, sagt er.

Nepal Access Transitional Home
Philipp Grüll

Wer auch immer der wahre Betrüger ist, Opfer ist das Kind. Voller Hoffnung kam Himal (15) nach Kathmandu, wurde in einem Haushalt abgeliefert und musste sich seine Essen dort hart erarbeiten. Er wusch Kleidung, fütterte die Hunde und putzte das Haus. Sein Vater erzählt, er habe nur einmal Kontakt mit seinem Sohn gehabt. Als das Erdbeben Nepal erschütterte, dufte Himal daheim anrufen. Der Junge hatte noch Glück – sein Arbeitgeber schickte ihn erstmal tatsächlich zur Schule. „Das tun sie, um allen zu zeigen: ‚Seht her, mir liegt dieses Kind wirklich am Herzen‘“, sagt Subedi. Doch nach sieben Monaten drehte der Hausherr den Hahn zu. Himal bekam keine Schulmaterialien mehr. Also nahm er Reißaus und flehte die Polizei um Hilfe an. Die Uniformierten kontaktierten Gokul, der nahm Himal im Transitional Home auf und fand kurz darauf den Vater.

„Kindesweglegung ist ein großes Problem in Nepal“, erklärt der Regierungsbeauftragte Ram Bahadhur Chand, und fügt hinzu: „Was dem Staat fehlt, sind hart durchgesetzte Kinderrechte“. Daher nehmen NGO’s wie Subedis ACCESS die Aufgabe in die Hand. Sie nehmen die Kinder auf, päppeln sie geistig wie körperlich hoch, und suchen landesweit nach den Eltern.

Die Kinder unterscheiden sich in ihrem Leidensweg. Poonyeah (10) schuftete in den Restaurants eines „Familienfreunds“. Siddharta (16) ertrug die Arbeit als Haussklave ganze fünf Jahre, bevor er allen Mut zusammennahm und floh. Nirmala (14) wurde von einem Arbeitgeber zum nächsten weitergereicht. Und kaum einer konnte die Finger von ihr lassen. Auch Ranjeeta erlitt sexuellen Missbrauch. Doch sie alle eint derselbe Wunsch: Ab nach Hause.

Während Subedi und sein Team daran arbeiten, werkeln die Jungs und Mädchen selbst an ihrer Zukunft. Täglich sitzen sie vor ihren zerfledderten Büchern, rechnen, üben Englisch oder büffeln Sachkunde. Ranjeeti hat sich besonders ins Zeug gelegt, ließ drei Monate lang die Nähmaschine rattern, und legte erfolgreich die Prüfung zur Schneiderin ab. Es ist kein Studium in Amerika, aber es ist real, es ist hart erarbeitet, und es ist eine Chance. Und eines Tages lässt sie vielleicht die Nadel über ihre selbst designten Kleider fliegen. 

 

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