Ein Pakt mit Erdogan - umstritten aber alternativlos?

08. März 2016

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Flucht
Foto: Khalil Tareq

Wie die Flüchtlingskrise zur Gretchenfrage wurde und wieso die Türkei wie der Wolf im Schafspelz anmutet. Die Flüchtlingskrise spaltet die europäischen Gesellschaften und die Union wie keine Krise zuvor.  Die Zeit für gemeinsame Lösungen drängt. Nach dem Marathongipfel mit der Türkei legt Ungarn als erstes Land Veto gegen das geplante Abkommen ein.

Was passiert mit Europa?

Ahmet Davutoglu präsentierte sich sichtlich nonchalant am EU-Gipfel in Brüssel Montagabend. Der türkische Ministerpräsident schüttelte fleißig Hände mit den europäischen Staats- und Regierungschefs. Fast süffisant lächelte Davutoglu am Rande des Gipfels in die Kameras und verkündete: "Die Türkei ist bereit (...) Mitglied der EU zu werden". Ein Land, das Freiheitsrechte mit Füßen tritt und immer wieder mit eklatanten Menschrechtsverletzungen von sich hören lässt, soll ein Teil des europäischen Projekts werden?  Das Vorantreiben der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist allerdings nur eine der weniger umstrittenen Forderungen der Türkei bei den Verhandlungen am Montagabend. Visafreie Einreise von türkischen Bürgern in die EU noch diesen Sommer und weitere drei EU-Milliarden von insgesamt sechs Milliarden, die nach Istanbul fließen sollen, beinhaltet das Maßnahmenpaket.

Es ist das verzweifelte Ringen der EU um eine Lösung in der Flüchtlingskrise. Der deutsche Kanzlerkurs setzt noch immer auf die quasi utopische Sicherung der Außengrenzen und kritisiert unterdes das Vorgehen Österreichs und der Länder auf der Westbalkanroute. "Ein Zusammenbruch von Schengen wäre der Anfang vom Ende des europäischen Projekts", prophezeit  letzte Woche EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos. Die Rückkehr zu Schengen muss bis spätestens Ende des Jahres passieren, fordert die Kommission.

Wo liegen Europas Außengrenzen?

Zu denken muss es Europa allerdings auch geben, dass EU-Außengrenzen bereits an den Stränden der Türkei und Nordafrikas liegen. Will man die Flüchtlingsströme aufhalten, muss man sich auf dubiose Partner einlassen. An Rückführungsabkommen, die ebenfalls an europäische Zahlungen geknüpft sind, mit Marokko und Algerien wird derzeit getüftelt und der Türkei wird seit Wochen der Hof gemacht.

In der Aussendung des Rates heißt es Dienstagfrüh, dass ein gemeinsamer Aktionsplan der EU mit der Türkei schon bald auf den Weg gebracht wird. Alle "irregulären Migranten" sollen von Griechenland in die Türkei zurückgeschickt werden. Die Kosten dafür würde die EU übernehmen. Sind die Flüchtlinge dann wieder in der Türkei, sollen die Syrer unter ihnen die Möglichkeit auf Asyl in der EU erhalten. Sinn und Zweck dieser Vereinbarung soll es sein, das System der Schlepperbanden zu zerschlagen. Die Türkei bat sogar an, nicht nur Migranten ohne Bleibeperspektive, sondern auch syrische Flüchtlinge zurückzunehmen, natürlich nur, wenn sich Europa dafür mit Milliarden erkenntlich zeigt. In EU-Kreisen munkelte man zwischenzeitlich sogar, dass die Türkei bis zu 15 Mrd. Euro gefordert haben soll.  Erdogan lässt seinen Verhandlern auch über die Medien ausrichten, sie sollen zumindest die versprochenen drei Milliarden Euro vom Gipfel nach Hause bringen. Und der fordernde Umgangston zieht sich ebenfalls durch die weiteren Gespräche.

Die drei weiteren Milliarden sollen der Türkei bis 2018 zur Verfügung gestellt werden, in welche Projekte und Leistungen für Flüchtlinge diese fließen sollen, wurde bis jetzt nicht weiter konkretisiert. Druck macht die Türkei auch was die EU-Visabefreiung ihrer Bürger angeht. Das Ultimatum wurde auf Ende Juni dieses Jahres festgelegt. Ab Sommer sollen türkische Bürger also europäische Reisefreiheit genießen. Das bereitet vielen Europäern Bauchweh, da sie befürchten, dass diese sich eventuell illegal in Europa niederlassen könnten. Für Erdogan ist dies jedoch eine prioritäre Bedingung.

Die Grenzen des Mitgefühls erreicht?

Abseits des diplomatisch-politischen Schauspiels riskieren Flüchtlinge immer noch tagtäglich Leib und Leben und treten die riskanten Überfahrten nach Griechenland und Italien an. Das Leid der Gestrandeten ist förmlich greifbar in den unzähligen Bild- und Filmzeugnissen, ihre Verzweiflung tritt einstweilen gegen die Zäune Mazedoniens und weicht dem Tränengas am Boden aus. Diese Bilder berühren, ihre Geschichten treiben uns große, salzige Tränen in die Augen, doch Europas Empathie kommt auch langsam ins Wanken. Viele EU-Staaten geraten durch rechtspopulistische Rattenfänger innenpolitisch unter Druck. Kanzlerin Merkel braucht positive Ergebnisse, um ein Wahldebakel kommenden Sonntag in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt abzuwenden und ihren Kurs in der Krise zu verteidigen. Aber zumindest in einem Punkt scheinen sich die europäischen Staatschefs einig: Der Andrang an Flüchtlingen übersteigt bald die europäischen Kapazitäten.

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Simone Egarter arbeitet und lebt derzeit in Brüssel.

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