Wir Erben der Willkommenskultur

23. September 2015

Sieben Uhr morgens, Westbahnhof. Richard zieht an seiner Zigarette, ich leiste ihm Gesellschaft. Aus seinem Mund kommt Rauch. Mein Atem gefriert. Wir ziehen unsere Jacken zu. Der Sommer ist zu Ende, und heute wird ein harter Tag. Heute werden es wieder viele. Das haben wir im Gespür.

Auf unseren Rücken prangt das Logo der Caritas. Richard und ich arbeiten ehrenamtlich am Westbahnhof. Wir gehören zu einer kleinen Gruppe von Veteranen, die andere Helfer koordinieren. Wir haben dazu keine besondere Ausbildung. Wir haben nur unsere Funkgeräte und unsere Belastbarkeit.

Westbahnhof Flüchtlinge Freiwillige Caritas
(c) Barbara Süss

An meinem ersten Tag habe ich noch Wasser in Still und Prickelnd sortiert. Während ich Flaschen auf Einkaufswägen hievte, beobachtete ich die alten Hasen. Ein breit gebauter junger Mann mit rotem Haar trieb Dolmetscher zum Bahnsteig, diskutierte am Weg mit der Polizei und brachte neueste Infos aus Nickelsdorf zurück. Richard stellte sich vor die meterlange Spenderschlange, nahm drei Bananenkisten auf einmal entgegen und keuchte seinen Dank. Und ein hübsches Mädchen mit blonden Locken ließ ihre blauen Augen über das Chaos schweifen, sprach knappe Befehle in ihr Funkgerät, schickte Helfer umher und brachte irgendwie Ordnung in den Westbahnhof. 

Ich dachte bei mir: Was immer die Caritas ihren Profis zahlt, es ist zu wenig. Denkfehler. Auch das sind Freiwillige. Viele stehen seit August sieben Tage die Woche hier, bis zu 10 Stunden am Tag. Und sie haben sich eine gigantische Verantwortung aufgehalst.

Etwa 10% der Caritas-Truppe am Westbahnhof bekommt Gehalt, schätze ich. Der Rest arbeitet ehrenamtlich. Die FPÖ nennt uns „Invasions-Kollaborateure“ (Martin Glier), die für ihren Hochverrat 10 Euro die Stunde verdienen (Harald Vilimsky). Diese Partei fürchtet Chaos, Unruhen, Gewalt durch Flüchtlinge. Doch genau das verhindern wir jeden Tag aufs Neue. Hier liegt die Ironie. Ohne uns wären die größten Ängste der FPÖ längst Realität. Ohne uns, und ohne all die Spender, wäre Wien im Ausnahmezustand.

Westbahnhof Flüchtlinge Freiwillige Caritas
(c) Barbara Süss

Gemeinsam mit der Polizei, der Rettung und der ÖBB versuchen wir, den Alltag für alle Beteiligen so normal wie möglich ablaufen zu lassen. Wir stillen Hunger und gewähren Rast. Wir beruhigen traumatisierte Menschen und bekämpfen Ängste, sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Flüchtlingen. Wir suchen Lösungen. Und jede Nacht organisieren wir Unterkünfte, damit der Westbahnhof sauber bleibt. Noch funktioniert das. Aber jetzt kommt der Oktober.

Zwei Zahnräder halten diese Maschinerie am Laufen: Spenden und Studenten. Die Wiener Willkommenskultur liefert das eine, die Ferien das andere. Doch ich fürchte den Tag, an dem beide enden.

Westbahnhof Flüchtlinge Freiwillige Caritas
(c) Barbara Süss

Die überwältigende Großzügigkeit Wiens ging einher mit dem Interesse der Medien. Beides kam gemeinsam auf und könnte gemeinsam abflauen. Schon jetzt wird die Schlange immer kürzer. Und ab Oktober müssen die Studenten ein paar bittere Entscheidungen treffen. Viele meiner Kollegen verschieben bereits jetzt ihre Prüfungen. Und mit täglich tausenden neuen Flüchtlingen in Nickelsdorf ist kein Ende in Sicht.

Die „Refugees Welcome“-Fraktion hat eine große Herausforderung angenommen. Manch einer wirft uns Kurzsichtigkeit vor. Beweisen wir das Gegenteil. Menschlichkeit muss mehr als ein Trend sein. Der Krieg in Syrien geht weiter, und unsere Schlacht ist noch nicht geschlagen. Ich bitte euch, lasst uns nicht im Stich.

(Namen wurden von der Redaktion geändert.)

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Kommentare

 

sehr gut geschrieben!

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