Wir schulden ihnen unser Leben!

21. Dezember 2015

Was für ein turbulentes Jahr liegt hinter uns. Turbulenzen entstehen ja meist dort, wo Dinge aufeinanderprallen. Und ja, die Welt ist in diesem Jahr ein Stück näher zusammengerückt. Was nun aber wie ein romantischer Slogan klingt, war rückblickend doch alles andere als romantisch. Das Sterben, der Terror und die Gewalt in der Welt fanden sich plötzlich mitten unter uns. Was wir vorher noch so gut ausklammern konnten, klopft plötzlich leibhaftig, angreifbar und vor allem fühlbar an unsere Tür. Traiskirchen. Aylan. Der LKW. Paris. Grenzen. Hier stehen wir also gespalten mit der Erkenntnis, dass unsere Insel der Seligen gar keine Insel ist. Und während wir noch im Schockzustand verharren schweben über unseren Köpfen Fragen wie: Wie sollen wir unser Leben ab jetzt gestalten? Wo ist der Weg zwischen Mitgefühl, Betroffenheit und Weitermachen? Was sind wir der Welt schuldig? Dürfen wir angesichts des Schreckens in der Welt unser Leben überhaupt noch leben wie zuvor?

Für mich gibt es darauf am Ende dieses Jahres nur eine einzige Antwort: Nein, wir dürfen es nicht. Wir müssen es. Wir müssen unser Leben sogar noch mehr leben, als wir es je zuvor getan haben. Durch nichts können wir die vielen Toten wieder lebendig machen, oder die vielen schrecklichen Geschichten der Überlebenden ungeschehen machen. Aber ihr Tod darf für uns nicht bedeutungslos sein.

Wir sollten aufhören, unseren Gefühlen zugunsten einer möglichst souveränen, möglichst coolen, möglichst hilfsbereiten, möglichst perfekten Fassade auszuweichen. Das Leben ist nämlich das, was sich hinter der Fassade abspielt. Und genau an dieses Leben erinnert uns der Tod, und überall, wo er auftaucht, und sei es nur ein Hauch von ihm, fordert er das Leben heraus, sich ihm zu widersetzen.

Unsere einzige Reaktion kann also nur sein, über die geringste Kleinigkeit so sehr zu lachen, bis man nicht mehr kann vor lauter Bauchschmerzen, mit weichen Knien jemandem zu sagen „Ich liebe dich!“, auch wenn die Liebe vielleicht nie erwidert wird. Und wenn es weh tut, sich in den Schmerz fallen zu lassen, anstatt ihn ständig zu überspielen, bis er uns von selbst einholt, seinen Tränen freien Lauf zu lassen, egal wie unpassend es gerade scheinen mag. Wütend zu sein, wenn man sich nicht gerecht behandelt fühlt, anstatt Dinge einfach nur stillschweigend zu akzeptieren, vehement einzufordern, was sich richtig anfühlt, Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen, sich in der Mitte zu treffen, festzuhalten und zu kämpfen, solange es nur geht, aber nicht zu vergessen auch mal loszulassen, wenn es eben nicht mehr geht. Nervös zu sein vor der schlimmsten Herausforderung, sich bis auf die Knochen zu blamieren, aufzustehen, weiterzumachen und mit Würde zu scheitern. Und zuzulassen, dass unsere Maske auch mal brüchig wird.

Der leichtere Weg ist das natürlich nicht. Im Gegenteil, das Leben kann auch mal scheiß wehtun und dich so aus der Bahn schmeißen, dass du nicht weißt, ob du jemals wieder zu dir selbst zurückfinden wirst. Aber genau diese Erfahrung wirst du eines Tages brauchen, um jemandem in derselben Situation die Hand reichen zu können und ihm wieder auf die Beine zu helfen. Nur mitten aus dem eigenen Leben heraus kannst du für andere eine Brücke ins Leben bauen. Und das ist das einzige, was du den Menschen schuldest. Leb dein Leben, aber richtig!

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