Unsere Kindheit im Fernsehen

11. November 2015

Was hast du im TV geschaut, als du nach Österreich gekommen bist? Biber Redakteure plaudern aus dem Flimmerkästchen.

 

Meine heile Welt

von Melisa Erkurt

Als wir vom Bosnienkrieg nach Österreich geflohen sind, war ich noch ein Kleinkind. Als ich in den Kindergarten kam, sprach ich nicht viel, ich befürchtete, mein Deutsch würde keiner verstehen.

Wir hatten zwar einen Fernseher, aber nur ORF. Ich schaute gerne Confetti TV, das Kinderprogramm auf ORF1. Mit der Zeit fing ich sogar selbst an Kasperl Aufführungen vor meinen Kuscheltieren zu halten und das mittlerweile sogar auf Deutsch! Das Fernsehen hatte einen großen Einfluss auf meine Deutschkenntnisse. Mit jeder Folge „Die heiße Spur“, später in „Tom Turbo“ umbenannt, wurde mein Vokabular größer. Zugegeben, ich glänzte vor allem mit einem fundierten Kriminal-Wortschatz.

Kasperl
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Meisterdetektivin

Da ich damals noch keine Geschwister hatte und immer alleine spielen musste, holte ich mir auch Inspiration zum Spielen von Kindersendungen wie Tom Turbo. So schlich ich mit einer Taschenlampe durch unsere kleine Wohnung und versuchte herauszufinden, wer den Kochlöffel von meiner Mutter, den sie schon den ganzen Nachmittag über suchte, „gestohlen“ hatte. Noch Jahre später bat mich meine Mutter um Hilfe, wenn sie wieder einmal etwas verlegt hatte. 

Mit zunehmendem Alter wurden meine Ansprüche höher. Die Fälle von Thomas Brezina löste ich schon in den ersten zehn Minuten der Sendung. Etwas Neues musste her: Die Quizshow für Kinder „1, 2 oder 3“ wurde meinen intellektuellen Ansprüchen gerecht. Das Mitraten machte Spaß, nur die spannungsvolle Musik, die lief, während die Kinder zwischen den Feldern hin- und hersprangen, machte mich nervös. In der Schule glänze ich dafür mit unnützem Wissen.

Wurstsemmel

Als mein Vater Jahre später zu uns nach Österreich kam, hatte ihn der Krieg schwer gezeichnet. Er war frustriert und hatte oft schlechte Laune. Er war mir damals fremd, schließlich hatte ich ihn das letzte Mal als Kleinkind gesehen, mittlerweile besuchte ich allerdings schon die Volksschule. Nur beim Kommissar Rex-Schauen kamen wir uns näher. Der kluge Schäferhund brachte meinen Vater und mich zum Lachen. Gemeinsam rätselten wir auch, wer dieses Mal der Verbrecher sein könnte. Außerdem durfte ich mir am nächsten Schultag immer eine Wurstsemmel als Jause mitnehmen – die „Lieblingsspeise“ von Rex.

Mama konnte selten mit uns Fernsehen, oft musste sie spätabends in einer Gaststätte arbeiten. Ich konnte ohne sie schwer einschlafen. Mein Vater, ein riesen Sport-Fan, schaute wie fast immer Fußball auf ORF. Die Stimme von Fußball-Kommentatoren-Legende Robert Seeger wiegte mich das ein oder andere Mal in den Schlaf und ist wohl der Sound meiner Kindheit.

Ich lebe

Je älter ich wurde, desto weniger TV schaute ich. Freunde treffen und Musik hören hatten die Glotze ersetzt. Bis 2002 der Hype um die ORF-Castingshow „Starmania“ meinen Freundeskreis erreichte. Wir trafen uns Freitagabend zur Übernachtungsparty bei einer Freundin, Starmania war dabei Pflichtprogramm. Unsere Favoritin Christina Stürmer wurde zwar „nur“ Zweite, aber zu ihrem Hit „Ich lebe“ haben wir monatelang auf Geburtstagsfeiern und Schullandwochen durchgetanzt.

Erinnerungen

Das alles sind schöne Erinnerungen, die ich an unsere schwere Anfangszeit in Österreich habe. Das Fernsehen war damals mein Zufluchtsort in eine heile Welt, in der die größten Probleme der Menschen darin bestanden, die richtige Antwort auf Quizfragen zu finden.

Heute brauche ich keinen Zufluchtsort mehr, ich besitze jetzt nicht einmal einen Fernseher. Ich schaue hauptsächlich auf Netflix Filme. Die ZIB schaue ich in der TVthek, um mich in meiner jetzt heilen Welt über die Probleme der ganzen Welt zu informieren. Doch für eine neue Generation von Flüchtlingskindern werden der Kasperl und „Okidoki“, wie Confetti TV heute heißt, einmal die wenigen sorgenfreien Erinnerungen an ihre ersten Jahre in Österreich sein.

Melisa, 24,  ist Redakteurin und betreut das Schulprojekt „Biber-Newcomer“

Wetten dass??
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Fernsehen 1.0

von Adam Bezeczky

Meine Familie und ich sind 1991 nach Österreich übersiedelt. Anfangs hatten wir unseren alten Fernseher aus Ungarn mit, das ein schweres, schwarzes Monster war, und der noch nicht einmal eine Fernbedienung hatte! Da Kabelfernsehen damals noch sauteuer war – vor allem für Migranten, die von Null auf starteten – hatten wir „nur“ den ORF. Dabei hießen die Sender auch noch anders: ORF eins war damals noch FS1 – also Fernsehsender 1.

Die täglichen Nachrichten – damals noch „Zeit im Bild“, heute nur noch ZIB genannt -  waren ein Fixpunkt unter der Woche. Ich saß gemeinsam mit meiner Mama gebannt vor dem Fernseher und schaute die neuesten Nachrichten aus der Welt um 19:30. Für sie waren das wichtige Updates, denn sie war im Außenhandel tätig und musste Bescheid wissen, was in der Welt passierte.

Die Moderatoren Robert Hochner, Horst Friedrich Mayer und – damals für den ORF aktiv – Ursula Stenzel – erklärten jeden Abend professionell und unaufgeregt, was gerade warum wichtig war. So war ich bereits früh an Politik und Geschichte interessiert.

Harmloser Fernsehspaß für die ganze Familie

Ein weiterer Fixpunkt war „Wetten dass??“. Thomas Gottschalk hat einmal im Monat die Familie auf die Couch gelockt. Die Wetten waren spannend: egal, ob das der Horst aus Österreich war, der die Farben der Buntstifte anhand ihres Geschmacks erkennen konnte, oder Robert aus Deutschland, der mit einem Bagger in Weingläser eingeschenkt hat. Selbst mein großer Bruder, der 5 ½ Jahre älter ist als ich, hat sich die Sendung angeschaut. Zumindest anfangs. Insgesamt war es ein harmloser Fernsehspaß, der ohne Titten und Gewalt auskam.

Mit der Zeit hat der ORF auch mehr Programme aus dem deutschen Fernsehen übernommen: Shows, die eigentlich für ARD oder ZDF produziert worden sind, kamen bei uns auch auf den Schirm. Sehr gern erinnere ich mich an die „Knoff Hoff Show“. Hier wurden wissenschaftliche Zusammenhänge verständlich erklärt und sind sicherlich auch der Auslöser dafür gewesen, warum ich mich für Technik zu interessieren begann.

König
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Immer mehr US-Serien

Die Simpsons liefen jeden Sonntagvormittag – ich nehme an, weil es eine Zeichentrickserie war. Dass es sich dabei eigentlich um eine Sendung für Erwachsene handelte und viele sozialkritische Themen behandelte, war glaube ich noch nicht wirklich bekannt.

Später wurde ich ein großer Fan der „klassischen“ US-Serien, die der ORF zeigte. Ich kann mich noch genau erinnern: um 15:30 spielte es immer Star Trek: Das nächste Jahrhundert, danach kam das A-Team. McGyver war auch einer der Helden meiner Kindheit. Was mich immer geärgert hat: ich habe nie die erste Folge, den sogenannten „Piloten“ gesehen – weder von Star Trek, dem A-Team oder McGyver.

Ich kann mich auch noch an den Beginn der Reality Shows erinnern: Big Brother und was das für ein Skandal ist, wenn die Bewohner den ganzen Tag gefilmt werden. Nach der ersten Folge war klar: es würde hauptsächlich langweilig werden.

Freunde von früher

Heutzutage schaue ich sehr selten „ins Kastl“ – meine Nachrichten rufe ich minutenaktuell übers Internet und über orf.at ab. Und das übers Handy und Tablet. Mir fehlt auch die Geduld, an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit vor dem TV zu sitzen: ich streame lieber über Netflix oder die TVThek  meine Lieblingsserien oder schmeiße eine BlueRay aus meiner Sammlung rein.

Die Beziehung zum  „Fernsehen“ ist wie zu einem sehr alten Schulbekannten: früher unzertrennlich, heute nur noch flüchtige Bekannte. Wir haben uns einfach auseinandergelebt – es ist nicht mit der Zeit gegangen. Was mir zusätzlich auf den Geist geht: die ununterbrochene Werbung. Ein durchschnittlicher Film würde - ohne Werbung – eine Stunde und dreißig Minuten dauern. Mit allen Werbespots kommt der Film locker auf zwei Stunden – bei aller Freundschaft, soviel Zeit habe ich einfach nicht. 

Adam, 31, ist der Anzeigenchef und Vertriebsleiter von biber.

 

Ari Pekka-Nikkola

von Amar Rajković

Ja, ich gestehe. Schon bevor der Krieg meine Kindheit in Ex-Jugoslawien jäh beendete, war ich ein Wintersport-Fan. Ernst Vettori, Alberto Tomba, Thomas Stangassinger. Das waren meine Helden. Keine Savicevics, keine Vlade Divacs und auch keine Monika Seles. All diese jugoslawischen Sport-Idole waren nach dem ersten Schneefall vergessen. Ab da hieß es nur mehr „Telemark“, „Torfehler“ oder „Start wegen Nebel verschoben.“ Die Skisaison war eröffnet!

Und weil Slowenien damals zu Jugoslawien gehörte, konnte ich selbst beim Zuschauen patriotisch sein. Skigrößen wie Mateja Svet, Primoz Ulaga oder der zu früh verstorbene Rok Petrovic ließen auch einen kleinen Jugo stolz vor dem Flimmerkasten mitfiebern. Mein Nachbar nannte mich sogar Ari Pekka-Nikkola, in Anlehnung an den legendären finnischen Skispringer. Wenn jemand nicht wusste, wer vorletztes Wochenende in Planica oder Garmischpartenkirchen den Sieg errungen hatte, brauchte nur den kleinen Amar zu fragen.

Dann kam der Krieg. Das heißt keine Zeit zum fernschauen - bis ich mit meiner Familie nach Österreich flüchtete und im televisierten weißen Himmel landete. Denn man muss wissen: Egal, wie stark die österreichische Fußballmannschaft spielt, den Naturburschen auf zwei Brettern konnte keiner den Schnee abgraben. Das war bei meiner Ankunft ´93 so, da hat sich 22 Jahre später wenig daran geändert. Wintersportler sind hier Superstars. Herrmann Maier mimt den Werbestar, Hans Knauss und Thomas Sykora kommentieren für den ORF, Anna Fenniger ist das mediale Pin-Up-Girl.

Dementsprechend saß ich als Knirps frühmorgens vor dem riesigen Röhrenfernseher, Augen weit aufgerissen und staunte. Ich staunte über die Aufnahmen des ORF, der dem Zuschauer Ski-Rennen in „Terminator“-Optik präsentierte. Superzeitlupen, spektakuläre Kamerafahrten, Helikopteraufnahmen. Ich dachte mir nur, „Wow, diese Ösis, die sind mir sympathisch.“

Ski
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Die absolute Hingabe zu den Wintersportarten ist zwar mit den Jahren verflogen, die Erinnerungen sind aber geblieben. Erst vor kurzer Zeit zog sich der Architekt dieser Aufnahmen aus dem Berufsleben zurück. Der renommierte Regisseur Fritz Melchert vereinfachte meine Ankunft in Österreich und half mir unbewusst mit der Integration. Danke Fritz für die bleibenden Erinnerungen.

Jüngst läutete das Telefon bei meinen Eltern. Ich war auf Besuch und ging ran. Es war Miso, mein Nachbar. Er lebt mittlerweile in Australien, seine Töchter sind beide schon verheiratet, ich hatte schon vergessen, dass Miso überhaupt existiert. Die Zweifel waren schnell ausgeräumt, es war Miso und er nannte mich wie damals vor 22 Jahren. „Wenn das nicht unser Ari Pekka-Nikkola ist.“

Amar Rajković, 34, ist stv. Chefredakteur von biber.

 

Fotocredit: Jörg Schmitt/ dpa /picturedesk.com, Georg Schneider / APA / picturedesk.com, First Look/ picturedesk.com, Michael Pladeck / Interfoto / picturedesk.com - Sprint Press/ Ullstein Bild / picturedesk.com, bereitgestellt Marko Mestrovic, Philipp Tomisch

 

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