Taliban fahren Autodrom in Herat

17. August 2021
Linke Hand auf dem Lenkrad, in der rechten die Kalaschnikow. Langer Bart, ein Turban auf dem Kopf, ein schelmisches Lächeln auf den Lippen. Und das alles in einem Autodrom. Was wie aus einem Monty-Python-Film klingt, wurde gestern in Herat, Afghanistan, aufgenommen. In einem Video ist zu sehen, wie vorwiegend bärtige, bewaffnete Männer - offensichtlich Kämpfer der Taliban - in Kleinkindmanier die kunterbunten Autos gegeneinander krachen lassen. Man möchte eigentlich lachen, wäre der Hintergrund nicht so tragisch. 
 
Das Video wurde mir vom biber-Praktikanten Mohib gezeigt. Er ist völlig am Ende mit seinen Nerven. Er hat Kontakt zu seiner Familie in Herat. Ja, es ist die Stadt, in der sich die grotesken Szenen im Autodrom abgespielt haben. Seiner Familie geht’s gut, aber wie lange noch? Mohib zeigt mir ein anderes Video, auf dem eine Statue von mit Spitzbeilen bewaffneten Männern zerstört wird. Auf dem nächsten Video sind Maler auf den Straßen unterwegs, die bunte Graffitis und Modeplakate mit lachenden Frauen auf den Wänden Kabuls demonstrativ mit weißer Farbe übermalen. Ein neues Zeitalter wird eingeläutet: Eines, in dem Frauen unsichtbar gemacht werden, Kunst jeglicher Art nicht mehr erwünscht ist.
 
Talibans Töne nach der Machtübernahme sind ja fast streichelweich, bedenkt man die sonst so radikale und martialische Auslegung ihrer Glaubensgrundsätze. Keine Steinigungen, Enthauptungen, keine Berichte über Gräueltaten an regierungstreuen Personen oder „Ungläubigen“. Kann das wahr sein, können Taliban staatsmännisch und gemäßigt auftreten, für alle Völker und Religionen Afghanistans da sein? Mohib traut dem Braten nicht. Er hofft zwar, dass den Versprechungen der Taliban, niemandem was anzutun, auch Taten folgen würden. Aber er weiß auch, was die fünfjährige Herrschaft der Glaubenskrieger, die mit der Intervention Amerikas 2001 endete, mit sich brachte. Mädchen durften nicht mehr in die Schule gehen, für kleine Kriminaldelikte wurde die Scharia angewendet. Das hieß öffentliches Abhacken der Hand, Peitschenhiebe, Enthauptungen. Andersgläubige wurden zu Tode verfolgt. Auch wenn Mohib mit seinen 23 Jahren zu jung ist, um sich selbst daran zu erinnern. Die Horrorgeschichten hörte er oft von älteren Mitmenschen, den Nachbarn, den Marktverkäufern. Sie haben sich in das kollektive Gedächtnis der Menschen am Hindukusch eingebrannt. Und jetzt soll alles plötzlich anders sein?
 
Mohibs Eltern sind auch heute noch in Herat. Der Bruder ist mittlerweile zu ihnen gezogen. Seine Frau steckt mit den zwei Kindern in Kabul fest. Sie lebt eigentlich in den USA und war auf Besuch in Afghanistan. Nun kommt sie nicht weg, aus dem Land, das in den Fängen der Radikalislamisten steckt. Oder den plötzlich gemäßigten „Schülern“, wie die Taliban aus dem Arabischen übersetzt heißen. Ob sie dazu gelernt haben? Mohibs Blick gefriert für kurze Zeit, bevor er vor Verzweiflung schmunzelt: „Hoffentlich.“
 
Anmerkung: Normalerweise schreibt Mohib selber Texte. Heute war er dazu nicht in der Lage. 

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