Ukraine-Krise: Der "Fall des Falles" ist eingetreten.

24. Februar 2022

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Nada El-Azar
(C)Zoe Opratko

Das schier Undenkbare ist eingetroffen: Moskau hat in der letzten Nacht eine militärische Operation in der Ukraine gestartet. Ein Kommentar.

„Russland hat der Ukraine den Krieg erklärt. Es wurden Raketen gefeuert.“ Mit diesen Worten wurde ich heute kurz vor sechs Uhr früh aus dem Schlaf gerissen. Mein Mann Aleksei, der Russe ist, war über den Großangriff auf die Ukraine genauso schockiert wie ich. Die letzten Wochen verfolgten wir das Geschehen um den Konflikt intensiv, sprachen auch mit Freunden und Bekannten immer wieder über die Situation. Warum passiert das gerade jetzt? Welchen Medien und Inhalten kann man überhaupt glauben, die gerade verbreitet werden? Was ist überhaupt in den acht Jahren, seitdem die Gebiete DNR (Volksrepublik Donezk) und LNR (Volksrepublik Luhansk) proklamiert wurden, dort eigentlich geschehen? Was will Putin wirklich? Denn die Situation ist bei weitem keine akute, sondern zieht sich seit 2014 bis in die Gegenwart. Dass es zu einem tatsächlichen Angriff oder einem „dritten Weltkrieg“, wie die Situation häufig auf Social Media benannt wird, kommen könnte, dachten wir jedenfalls nicht. Vielmehr ist klar geworden, dass einerseits der Kalte Krieg wohl niemals beendet worden ist, und zum anderen eine egoistische Politik aus Moskau zum Leidtragen aller Beteiligten, und mit allen Mitteln durchgesetzt wird. Von den verhängten Sanktionen wird nicht Putin, sondern die russische Bevölkerung, von denen die meisten nichts mit dem Konflikt zu tun haben, hart getroffen. Ein Swift-Ausschluss macht es für im Ausland lebende Staatsbürger schwer, Geld an ihre Familien zu schicken. Es trifft also nicht nur die großen Firmen, sondern eben auch einfache Leute. In Belgien überlegt man gar, keine Visa mehr an RussInnen zu vergeben – auch ganz normale ArbeiterInnen und StudentInnen wären davon betroffen. Ist das wirklich der richtige Gegenschlag?

Egoshow, statt Probleme im eigenen Land zu lösen.

Wie auch immer die Menschen in Russland zur Ukraine stehen – auf eine kriegerische Auseinandersetzung hat es niemand abgesehen. Zum Einschlafen sahen wir letzten Abend noch die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenski, in der er unter anderem an die russische Bevölkerung appellierte, doch endlich für Frieden zu sorgen. Jedoch hat die gemeine russische Bevölkerung herzlich wenig Einfluss auf die Entscheidungen, die Putin im Moskauer Kreml trifft. Erst vergangenes Jahr schlenderte ich am Wahlsonntag des 19. September durch die Petersburger Innenstadt. Abgesehen von den Plakaten auf der Straße und der Dauerbeschallung mit Putins Reden im heimischen TV bekam man von den Wahlen nichts mit. Debatten und Elefantenrunden zwischen „den Kandidaten“ – den auch die Konkurrenz Putins war sorgfältig kuratiert – vermisste man. Es gab auch keine Schlangen vor den Wahllokalen, wie wir es etwa aus Wien kennen. Die Einkaufsstraßen und Cafés waren voller Menschen, die sich über alles andere als die Wahlen unterhielten. Überhaupt scheint keiner unserer Kontakte in Russland wählen zu gehen – denn alle wissen schon, wie die Wahlen ausgehen. Und genauso wird die Bevölkerung im aktuellen Konflikt vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Nachwehen der Coronapandemie, diverse Korruptionsaffären und die  allgemein desolate Infrastruktur in vielen innerrussischen Ortschaften, sind aktuelle Probleme, die bleiben. Der Großteil der Bevölkerung ist in Wirklichkeit kaum an der Annexion irgendwelcher Gebiete im Ausland interessiert. Prekäre Arbeitsverhältnisse, steigende Lebensmittel- und Energiepreise, sowie eine Teuerung von Mieten sind Themen, die gerade die junge Bevölkerung schon eher beschäftigen. Und das sogar in Moskau, wo es vergleichsweise die größten Perspektiven im Land gibt.

„Putinversteher“ sein vs. NATO-Verharmlosung

Dass sich wohl viele RussInnen durch die „NATO-Osterweiterung“ provoziert fühlen, darf man aber auch nicht ignorieren. Jedoch ist die Rhetorik Putins, dass er in der Ukraine gerade einen Kampf gegen einen „Genozid“ und für die „Denazifizierung“ führt, an Absurdität kaum zu übertreffen. Versucht man sich in der Debatte zu positionieren, wird einem entweder vorgeworfen, dass man etwa schon Katastrophen wie die NATO-Einmischung im Kosovo verdrängt hätte – oder eben ein „Putinversteher“ sei. Bei der ganzen Propaganda und den Falschmeldungen ist es allerdings auch schwer, einen Mittelweg zu finden.

Viele meiner ukrainischen FreundInnen (die nicht in ihrem Heimatland leben) teilen die Erfahrung, ihre Identität als UkrainerInnen immer wieder neu aushandeln zu müssen – also gleichzeitig zu vermitteln, dass sie eben keine RussInnen sind. Die historische Unterdrückung der ukrainischen Sprache – die wohlgemerkt aber auch weit vor der Entstehung der Sowjetunion passierte – ist nur eine Seite der Medaille. Auch das russische Narrativ, das der ukrainischen Nation ihre eigene Staatlichkeit und Tradition abspricht, und das in den jüngsten Ansprachen von Putin eifrig wiederholt wird, spielt da hinein. Auch von westlicher Seite ist oftmals nicht genug dafür getan worden, 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion der Ukraine genug Anerkennung als eigene Nation zu geben – nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im akademischen und kulturellen Bereich. So soll etwa auch die Webseite der Lufthansa auf Russisch angezeigt worden sein ihre Produkte in Rubel bezahlt werden, obwohl man sie in der Ukraine aufrief.

Zivilbevölkerung bleibt außen vor

Schon vergangene Woche verhing das österreichische Außenministerium eine Reisewarnung für die Gebiete der Ostukraine. Westliche Gebiete wie die Stadt Lviv oder die Oblast Iwano-Frankiwsk waren also nicht betroffen. Gleichzeitig erreichten mich Nachrichten von Kontakten in Russland, die über ihre Arbeitgeber Briefe bekamen, dass ihre Kontaktdaten zu aktualisieren wären. Die Daten sind für das Kriegskommissariat gedacht, damit „im Falle des Falles“ Behörden wissen, woher sie zusätzliche Ressourcen beziehen können. Wie gesagt, passierte das schon vergangene Woche. Zum Jahreswechsel 2015/2016 lebte ich in Lviv und erinnere mich noch sehr gut an eine Gruppe ukrainischer Veteranen aus dem Donbass, die in dem Künstlercafé „Dzyga“ Weihnachtslieder sang und Spenden sammelte. Damals herrschte eine große, euphorische Aufbruchsstimmung, obgleich der Verlust der Opfer des Kriegs im Donbass tiefe Wunden hinterlassen hat. Stolz wurde die Parole „Слава Україні!“ („Ruhm der Ukraine!“) wiederholt.

Nada El-Azar-Chekh
Ich, Anfang 2016, im Freilichtmuseum für Volksarchitektur und Landleben im Schewtschenko-Hain, Lviv, Westukraine. (privat)

Der Stolz und der Glaube der Ukrainer an eine Zukunft als souveräne Nation ist bis heute nicht abgerissen. Aber Angst, Wut und ein erschlagendes Gefühl der Ohnmacht haben sich, mittlerweile auch über die Landesgrenzen hinaus, merkbar breit gemacht. All das passiert vor unserer Haustür. Es ist unendlich frustrierend, dass wir, die Zivilbevölkerung, der Situation ausgesetzt ist und an den großen Schreibtischen diverser Regierungsvertreter und der „Sicherheitskonferenzen“ kein Sagen haben. Bleibt also wohl nur zu hoffen, dass endlich Vernunft und Frieden Einzug halten, statt rigide Rachevorstellungen und Elend. Und, dass die Ukraine endlich die Freiheit genießen kann, die sie seit Jahrzehnten verdient hat.

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