Wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich ihr Gesicht

07. Juli 2016

Gamze

Gamze, Kiel
Adnan Durukan

Die junge Frau auf dem Bild ist meine Schwester Gamze. Dir werden sofort die roten Blutergüsse um ihre Augen aufgefallen sein. Sieh dir ihr Gesicht bitte genau an. Auch ihre Nase wirkt etwas angeschwollen. Klar, sie ist ja auch gebrochen. Siehst du aber auch ihren starken und stolzen Blick? Siehst du, wie sie aufrecht steht, den Kopf erhoben? Wie stark sie aussieht - trotz dieser dunkelroten, blutigen Verletzungen?

Stolz und aufrecht steht sie, obwohl das nicht das Ziel des Angreifers war, der ihr das angetan hat. Meine Schwester Gamze hat drei Kinder. Sie war Samstagvormittag einkaufen gegangen. Es war noch Ramadan und sie wollte für den Iftar, für das Fastenbrechen am Abend, noch einiges besorgen. Auf dem Weg begegnet sie auf der Straße einem 55 Jahre alten Mann, der: „Scheiß Muslime!“ ruft und sie mit der Faust ins Gesicht schlägt.

Ich habe das aus türkischen Medien zuerst erfahren: Zunächst Zaman Online, dann Sabah.de, einige Tage nach der Tat (am 5.7.). Die Zeitungen kontaktieren türksichstämmige PolitikerInnen und Verbände, die zeigen sich empört und reagieren. So verbreitet sich die Nachricht in der türkischen Community und durch soziale Medien in Windeseile und erst heute, am 6.7. gibt es deutschsprachige Artikel dazu – nicht viele, aber immerhin.

Aus der Zaman erfahre ich dann auch, dass vor einigen Tagen das Haus einer türkischen Familie mit 5 Kindern in Hambühren angezündet wurde. Gott sei Dank ist die Familie auf Urlaub und so ist „nur“ das Haus abgebrannt. Der Schaden beläuft sich auf über 300.000 Euro. Wie so oft bei Brandanschlägen denke ich an Solingen. Als ich nach Österreich kam, gab es zwei entsetzliche Ereignisse, die mir so klar wie nichts verdeutlicht hatten, dass nichts mehr so war wie früher: Ich lernte das Wort „Nazi“ kennen und dass ich Angst vor ihnen haben muss. Ich sollte beispielsweise nicht alleine auf die Straße, denn vor Kurzem - erzählte man mir - sei ein Mann von Nazis aus dem fahrenden Zug geworfen worden, weil er schwarz war. Und bald darauf wurde in Solingen das Haus einer türkischen Großfamilie angezündet: 5 Tote, 17 zum Teil Schwerverletzte.

Solingen sitzt tief in den Knochen der türkischstämmigen Bevölkerung in Europa- auch über 20 Jahre danach ist nichts vergessen. Ich hatte es damals nicht verstanden, warum „türkisch sein“ ein Grund für einen Angriff und so eine Unmenschlichkeit war. Heute sind Brandanschläge gegen Asylunterkünfte, Familienhäuser und Moscheen fast schon Alltag. Sie sind so gewöhnlich, dass nicht mal mehr ordentlich darüber berichtet wird. Katzen, die von Bäumen gerettet werden, finden hingegen oft und viel Platz in der medialen Berichterstattung. First things first, eben. Alles der Reihe nach. Manches ist halt nicht so wichtig, wie die Abenteuer der Katze Fluffy.

Aber jetzt zurück zum Bild: Weißt du, was du auf diesem Bild nicht siehst? Du siehst Gamze nicht weinen. Du siehst nicht, wie sich Gamze schämt vor ihren Kindern zu weinen. Du siehst nicht, wie sie dagegen kämpft, vor ihren Kinder schwach auszusehen und wie sie sich zusammenraffen muss, damit sie in diesem Zustand starke Fotos geben kann. Du siehst nicht, wie ihre Kinder versuchen, sie zu trösten und wie ihr ältester Sohn sagt: „Mama, hab keine Angst, das nächste Mal beschütze ich dich.“ Du siehst nicht, wie sie auf diesen Satz hin ihren Sohn umarmt und noch mehr weint. Du siehst nicht, wie sie sich leise in den Schlaf weint, noch immer zu verletzt und entsetzt über diese Faust, die wie aus dem Nichts plötzlich in ihr Gesicht knallt. Du siehst nicht, wie ihr Mann so tut, als ob er sie nicht hört, damit sie glauben kann, dass er glaubt, dass sie stark geblieben ist und dass es ihr wieder gut geht. Auch er vergießt Tränen und auch er zeigt sie ihr nicht. So machen sie sich einander vor, dass sie stark sind. Sie sind es auch, denn sie kämpfen ununterbrochen dafür, ihr Gebrochensein zu überspielen. Und wenn sie es lange genug spielen, dann wird es irgendwann mal wirklich überwunden sein. Bis dahin und auch noch länger, wird sich ihr Mann immer Sorgen machen, jedes Mal, wenn sie das Haus verlässt und erst aufatmen, wenn sie wieder zurück ist. Die Gefühle, mit denen sie das Haus verlässt, können wir uns gar nicht vorstellen.

Du siehst auch nicht, was für eine große Überwindung es für sie war, mit diesem Gesicht Fotos für Medien zu machen. Denn nun sind ihre Blutergüsse ewig öffentlich dokumentiert. Die Google-Suche nach ihrem Namen wird lange nachdem die Wunden abgeheilt und abgeschwollen sind immer wieder die Erinnerung an diese brutale Attacke erwachen lassen. Du siehst auch nicht, wie sie sich schämt, vorerst das Haus zu verlassen, denn: Eine Muslimin mit Blutergüssen im Gesicht – wisst ihr, wie das aussieht? Wie nach einem typischen brutalen, frauenfeindlichen, muslimischen Ehemann wie aus dem Bilderbuch. Wie soll sie denn so rausgehen und es ertragen, wenn jemand kommt und sie fragt: „Hat dich dein Mann geschlagen?“. Das würde ja so gut ins Bild passen und wäre bestimmt eine Nachricht neben Fluffy der Katze wert.

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