Die Vermessung des Homo Muslimicus.

20. Oktober 2023

 

 Keine Bevölkerungsgruppe wird in Österreich so ausgiebig erforscht wie Muslim:innen. Die Studien verbergen mittlerweile kaum mehr, dass sie mehr einer politischen Agenda dienen als der Wissenschaft, meint der Politologe Rami Ali in seinem Essay.

Von Rami Ali, Collagen: Zoe Opratko

 Anmerkung: Der Text ist zuvor in der Herbst-Ausgabe 2023 des Magazins QAMAR erschienen.

 

Im Lichte der unberechenbaren, satirisch anmutenden politischen Geschehnisse in diesem Land kann man mit Gewissheit sagen, dass es den Österreicher:innen nicht langweilig wird. Langeweile – das ist etwas für unsere Schweizer Nachbarn zum Beispiel. Aber hier? Hier gibt es Neuwahlen so regelmäßig wie die Kürbiszeit, Präsidentschaftswahlen werden wiederholt, weil der Klebstoff die Wahlkuverts nicht richtig zusammenhält, Politiker treten nach „bsoffenen Gschichten“ zurück, in denen sie unter Alkoholeinfluss über den Verkauf heimischer Medien an Oligarchen sinnieren, während sie von versteckten Kameras gefilmt werden, oder – etwas aktueller – die Sozialdemokratische Partei verwechselt bei der Wahl ihres neuen Vorsitzenden Sieger und Verlierer. Ganze 48 Stunden war Hans Peter Doskozil irrtümlich der neue Mann an der Spitze der SPÖ – bis man zurückrudern musste: Sorry, eigentlich ist es Andreas Babler. Das Wahlfiasko ist symptomatisch für den Zerfall und Verfall der Sozialdemokratie in Österreich – es gibt Zeugnis über ihren Zustand: desaströs. Aber das ist ein anderes Thema.

Solche unvorhergesehenen Ereignisse sind manchmal frustrierend, manchmal amüsant, aber immer überraschend. Wer rechnet schon damit? Auf Dauer zehren sie an den Kräften aller. Deshalb braucht es Beständigkeit. Es braucht wichtige Eckpfeiler für die Politik in diesem Land. Im Idealfall ein Thema, über das man eine Debatte hoch- und runterfahren kann. Ein Thema, das polarisiert, aber auch jederzeit instrumentalisiert werden kann. Etwas, das so regelmäßig gespielt wird und so vorhersehbar kommt wie die Jahreszeiten. Und was eignet sich dafür in einem Land mit einer so reichen Geschichte wie Österreich besser als eine Minderheit? Richtig: nichts. Deshalb spielt „der Islam“ in Österreich eine große Rolle. In Abgrenzung zu ihm formieren sich (partei-)politische Identitäten, Parteiprogramme und ideologische Bewegungen. Der vielzitierte „Islamdiskurs“ ist ein Dauerbrenner – unverzichtbar für die österreichische Identität. Eigentlich sollten Österreicher:innen dankbar sein für diese Konstante in der heimischen Politlandschaft. Nichts ist beruhigender, als zu wissen, dass die nächste Kopftuchdebatte nur ein Interview entfernt ist, in dem ein selbst ernannter Experte das Kopftuch mit Unfreiheit, Kindesmissbrauch und Unterdrückung in Verbindung bringt. Wir können unsere Uhren stellen nach der öffentlichen „Diskussion“ darüber, wie gewaltverherrlichend der Islam eigentlich sei, sobald unter Jugendlichen im Park eine Schlägerei ausbricht. Und genauso ist eine Extrarunde „Islamdiskurs“ garantiert, wenn wissenschaftlich fragwürdige Autor:innen ihre neueste ÖVP-Auftragsstudie vorlegen.

Collage: Zoe Opratko
Collage: Zoe Opratko

 

GEGENBILD DES ÖSTERREICHERTUMS

„Diskurs“ – das Wort gefällt mir. Im philosophischen Sinne, etwa bei Foucault oder Habermas, steckt noch viel mehr dahinter, ganze politische Theorien basieren zum Teil auf diesem Begriff. Im engeren Sprachgebrauch aber versteht man darunter eine Art sachlichen Austausch von Argumenten, einen Dialog, könnte man sagen. Zu einem Dialog gehören aber mehrere Seiten. Der Diskursbegriff in Österreich, insbesondere im Zusammenhang mit dem Islam, ist aber eine Farce.

Der discurs austriacus (ich hatte nie Latein) klingt so offiziell und verleiht dem Sprecher eine Autorität, wenn auch nur eine imaginierte. Er suggeriert Seriosität und Objektivität. Genau das soll er auch, damit die österreichische Seele nicht verletzt wird, wenn unter dem Vorwand eines vermeintlichen Diskurses Politik auf dem Rücken einer Minderheit gemacht wird. Der Schein einer zivilisierten Nation muss aufrechterhalten werden, er dient auch der Konstitution des (vermeintlich) aufgeklärten Selbstbildes – in Abgrenzung zu dieser mysteriös anmutenden, oft gefährlichen, ja barbarischen Minderheit der Muslim:innen. Deshalb muss diese Minderheit auch ständig kontrolliert werden, man weiß ja nie. Denn „der Islam“ erfüllt nicht nur die Funktion des Gegenbildes zum imaginierten österreichischen Selbst – das ist nur eine Seite der Medaille. Er ist vor allem auch ein Einfallstor für jede rassistisch motivierte Politik in diesem Land, ein Durchlauferhitzer.

Du bist gegen Migration, hast Angst, dass „die uns die Arbeitsplätze wegnehmen, weißt aber nicht, wie du das am besten argumentieren sollst? Keine Sorge. Der Islam regelt das. Deine Lieblingspartei könnte zum Beispiel ständig von der „lauernden islamischen Gefahr“ reden, davon, wie unvereinbar der Islam mit dem „christlichen Abendland“ sei, vom „Kampf der Kulturen“ schwadronieren und am Ende zu dem Schluss kommen, dass Migration an sich abzulehnen sei, denn offenkundig sind Migrant:innen ja fast immer Muslim:innen.

Du hast ein Problem mit deinem muslimischen Arbeitskollegen und warst sowieso schon immer „islamkritisch, die offen rassistischen Eskapaden der FPÖ sind dir aber irgendwie zu brutal? Der Islam hat die Lösung. Deine Lieblingspartei könnte zum Beispiel öffentlich finanzierte Studien an ausgewählte Forscher:innen vergeben, die gefällige Ergebnisse liefern. So könnte deine Partei eine vermeintlich „objektive“ Grundlage schaffen, um dann „seriös“ ihr Hauptanliegen zu vertreten. Das Gute daran: Man kann sich auf die Wissenschaft berufen, was wiederum der anderen Seite der Medaille zugutekommt, nämlich der Herausbildung eines aufgeklärten Selbstbildes. Man muss sich also nicht schlecht fühlen, wenn man der Schließung muslimischer Gotteshäuser applaudiert. Immerhin hat ja ein „Wissenschaftler“ erklärt, dass diese Moscheen problematisch seien.

Collage: Zoe Opratko
Collage: Zoe Opratko

 

QUANTITÄT VOR QUALITÄT

Und mach dir keine Sorgen, wenn du beim Anblick von migrantisch aussehenden Jugendlichen sofort davon ausgehst, dass einige von ihnen sicher antidemokratische bis gewaltverherrlichende Ansichten haben – denn auch da hat deine Partei schon „Studien“ parat, die du zitieren kannst, um deine Abneigung zu rationalisieren. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen: Zu keiner anderen Religionsgemeinschaft gibt es in Österreich so viel Forschung wie zu den Muslim:innen. Und wenn der Auftraggeber, wie es in den letzten Jahren fast ausschließlich der Fall war, die ÖVP oder ein ÖVP-geführtes Bundesministerium ist, dann brauchst du die „Studie“ nicht mal zu lesen. Du kannst schon bei der Auftragsvergabe davon ausgehen, dass das Forschungsdesign so angelegt ist, dass die Studie das „richtige“ – also ein skandalisierbares – Ergebnis liefert. Das ist es, was ich als Österreicher gerade an Studien über den Islam und Muslim:innen in Österreich so schätze – diese Berechenbarkeit. Immer dieselben Autor:innen, meist derselbe Auftraggeber, stets dasselbe qualitativ abgründige Niveau und mit sehr hoher Sicherheit ähnliche Ergebnisse. Erfrischend.

Aber im Ernst: Die Quantität dieser Studien bei gleichbleibend schlechter Qualität sagt viel darüber aus, welche Funktion sie inzwischen erfüllen und in welchem gesellschaftlichen Klima sie operieren. In vielen Fällen dienen sie schlicht der Rationalisierung rassistisch motivierter Politik gegen die Minderheit der Muslim:innen und zielen auf ein Publikum, das entweder auf eine vermeintlich „objektive“ Begründung der eigenen Vorurteile gewartet hat oder ohnehin schon genug belastet ist. Und weil die Zielgruppe so spezifisch und relevant und das Ziel populistische Stimmenmaximierung ist, spielt die Qualität der Studien keine Rolle – die Überschrift reicht.

Deshalb kann es sich die ÖVP auch leisten, immer wieder Autor:innen mit antimuslimischer Schlagseite zu engagieren, die kaum Expertise in empirischer Sozialforschung haben, oder gar Autor:innen, die in der Vergangenheit bei der Manipulation von Studienergebnissen erwischt wurden, ohne einen besonderen Backlash erlebt zu haben. Denn wenn es um Muslim:innen und den Islam geht, versinkt die liberal-demokratische Öffentlichkeit vorsorglich im Koma. Mit gelegentlichen Zuckungen einzelner Gliedmaßen auf der linken Körperhälfte. Erst dieses antizipierte Ausbleiben lauter öffentlicher Kritik ist es, das „Islam-Studien“ und „Islam-Debatten“ im Dauerschleifemodus hält. Die Kurz-ÖVP verdankte nicht zuletzt dieser auf dem Rücken von Muslim:innen praktizierten Strategie ihren Aufstieg ins Bundeskanzleramt.

Studien haben also gezeigt: „Der Islam“ ist ein echter Star in Österreich – wenn auch nicht zur Freude der inspizierten Minderheit. Eigentlich wäre eine Würdigung längst überfällig. Warum nicht mit einem schönen Porträt des neuen Lieblings in den Parlamentsbüros der ÖVP? Bis vor Kurzem hing dort noch ein Porträt des Austrofaschisten Dollfuß. Es sollte also Platz sein. ●

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