„Gewalt ist für Obdachlose nichts Neues.“

13. September 2023

Drei Angriffe in weniger als einem Monat, zwei davon tödlich: Gewalt gegenüber Obdachlosen nimmt Ausmaße wie noch nie zuvor an. Doch auch vor den Angriffen hatten Obdachlose mit Gewalt und Marginalisierung zu kämpfen. Wir haben mit Susanne Peter, Leiterin von Streetwork, über die Angriffe, ihre Arbeit mit Obdachlosen und unsere Rolle als Zivilgesellschaft gesprochen.

Von Mathias Psilinakis

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Susanne Peter ist Streetworkerin bei der Caritas Wien. ©Atila Vadoc

Biber: Wie nehmen Sie als Sozialarbeiterin die aktuelle Situation rund um die Messerattacken auf Obdachlose wahr? Wäre es angemessen, von einem noch nie dagewesenen Maß an Gewalt gegenüber Obdachlosen zu sprechen?

Susanne Peter: In meiner Erfahrung im Wohnungslosenbereich, das sind ja doch schon über 30 Jahre, gab es so eine Art von Gewalt noch nie.

Und die Obdachlosen selbst? Wie nehmen sie die Ereignisse der letzten Wochen wahr?

Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Es gibt bei vielen sehr viel Angst. Manche Klient:innen haben aber noch gar nicht von den Ereignissen erfahren, weil obdachlose Menschen nicht unbedingt Tageszeitungen lesen oder auch weil sie oft die Nachrichtensprache nicht gut genug können. Teilweise sind sie ausschließlich mit ihren eigenen Grundbedürfnissen beschäftigt, also der Suche nach Essen oder Schlafplätzen. Manche schaffen es aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht, die Situation wahrzunehmen. Manche hingegen nehmen es aber auch wahr und versuchen, sich zu schützen.

Das Streetwork arbeitet mit Obdachlosen in ganz Wien und ist sieben Mal in der Woche im öffentlichen Raum unterwegs. Welche Hilfsangebote umfasst denn dieses Streetwork? Wie läuft es typischerweise ab?

Typisches Streetwork gibt es keines (lacht). Wir sind mit dem Auto unterwegs, um Obdachlose in ganz Wien aufzusuchen. Wir haben Kleidung mit, wir haben Essen mit und wir versuchen seit kurzem, Trillerpfeifen und Taschenalarme zu verteilen, damit sich Obdachlose bemerkbar machen können. Wir haben eine eigene Datenbank, wo die Meldungen, die wir von Anrufer:innen erhalten, eingegeben werden. Außerdem hat die Gruft (Anm. d. Red.: Eine Caritas-Einrichtung für obdachlose Menschen) bestimmte Betreuungsplätze, zu denen wir regelmäßig fahren. Mit den Daten erstellen wir uns eine Tour und versuchen einzuschätzen, wer am dringendsten Hilfe braucht. Wenn es etwa kalt ist und wir zwei Meldungen bekommen, die erste von einer Person in einem Zelt und die zweite von jemandem auf einer Parkbank nur mit einer dünnen Decke, dann fahren wir natürlich zuerst zur Parkbank.

Wie kam es dazu, dass Sie sich für eine Arbeit im Streetwork entschieden haben?

(Lacht) Ich habe mich gar nicht entschieden. Ich habe mit 16 Jahren in der Gruft angefangen, das war eine Aktion von 16-jährigen Schülerinnen und Schülern. Angefangen haben wir mit Tee und Schmalzbrot, die Gruft wurde immer größer und irgendwann ist sie zum Tageszentrum geworden. Wir haben uns aber gefragt: Wenn wir abends zusperren – wo gehen die Klient:innen hin? Deswegen waren wir immer wieder auf der Straße unterwegs. Als dann 1994 die Stadt Wien meinte, es muss etwas für die Obdachlosen getan werden, haben wir angeboten, Streetwork zu machen. Ich war eine der ersten Sozialarbeiter:innen im Streetwork, seitdem mache ich das. Das Streetwork ist also mit der Gruft mitgewachsen.

In Österreich sind rund 20 000 Menschen von Obdachlosigkeit betroffen. Wie passiert es, dass Menschen in die Obdachlosigkeit gelangen? Was sind häufige Ursachen?

Trennung, Schicksalsschläge, psychische Erkrankungen, aber mittlerweile auch, dass sich Leute das Leben und die Miete nicht mehr leisten können. Ich habe auch schon gehört: „Meine Frau ist tot, mein Kind ist tot, es hat eh keinen Sinn mehr. Menschen landen aus verschiedenen Gründen auf der Straße, und je nachdem, was die Gründe sind, können sie Unterstützung annehmen oder eben nicht. Je länger Menschen auf der Straße sind, desto schwieriger ist es oft für sie, Hilfe anzunehmen.

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"Viele schlafen mit offenem Schlafsack, um immer flüchten zu können." (C) Willfried Gredler-Oxenbauer/picturedesk.com

Welchen Gefahren sind obdachlose Personen in Wien in ihrem Alltag ausgesetzt?

Gewalt ist für Obdachlose nichts Neues, auch wenn es diese Art von Gewalt noch nie gab. Obdachlose Menschen sind immer wachsam, ob irgendetwas passiert oder sie irgendwer attackiert. Immer wieder erzählen uns obdachlose Menschen, dass sie attackiert worden sind, dass ihnen etwas gestohlen wurde, dass sie geschlagen worden sind. Teilweise schlafen sie deswegen auch schon mit offenem Schlafsack oder sogar mit Schuhen an, um schneller flüchten zu können. Viele erzählen auch, dass sie nur mit einem Auge schlafen. Das Problem: Irgendwann schlafen sie und genau dann sind sie am vulnerabelsten.

Sie sind nun schon seit mehr als 30 Jahren im Streetwork tätig. Wie hat sich die Situation der Obdachlosen in den letzten Jahrzehnten verändert?

Ich glaube, dass die Gewalt zugenommen hat. Aber auch von den Angeboten her hat es einen Quantensprung gegeben. Es gibt sehr viel Streetwork, sehr viele Tageszentren, es gibt betreutes Wohnen, es gibt Housing First. Da hat sich also schon sehr viel weiterentwickelt.

Die Caritas hat als Reaktion auf die Messerattacken unter anderem begonnen, Trillerpfeifen und Taschenalarme auszuteilen. Im Internet kam unter anderem die Kritik, dass das nicht genug sei. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

Die Frage ist, ob diese Kritiker:innen andere Ideen haben. Es sind natürlich nicht die einzigen Maßnahmen, es gibt zum Beispiel mehr Notquartiersplätze, die mit Unterstützung der Stadt Wien zur Verfügung gestellt werden. Trotz allem gibt es Menschen, die auf der Straße bleiben. Manche können oder möchten aus unterschiedlichen Gründen nicht in ein Notquartier gehen. Klar, da wirken Trillerpfeifen wie ein hilfloser Versuch, wir können aber auch keine Pfeffersprays oder Messer verteilen – das sind Waffen, das ist verboten. Letztens ist etwa ein Obdachloser in die Gruft gekommen und meinte: „Ich will auch so ein Pfeiferl haben, wo gibts die?, das Angebot wird also angenommen. Natürlich ist es keine Garantie, um einen Täter abzuschrecken. Als Streetworker:innen können wir Klient:innen vor Kälte und Hitze schützen, wir können Schlafsäcke, Decken, Wasser und Sonnencreme vorbeibringen. Es gibt aber kein Rezept, um Obdachlose vor Messerattacken zu schützen.

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Bei "Hostile Design" werden z.B. Bänke so gestaltet, dass Obdachlose hier nicht übernachten können. (C) Atila Vadoc

Welche Forderungen haben Sie an die Politik, um Obdachlosen besser zu helfen?

Unabhängig von den aktuellen Messerattacken bräuchte es im Sommer mehr Notquartiersplätze und mehr Streetwork. Akut wurde von der Stadt Wien jetzt sehr gut reagiert, es gibt ja schon mehr Notquartiersplätze und mehr Streetwork. Natürlich kann man auch nicht von heute auf morgen alles bereitstellen. Wie können wir als Zivilgesellschaft Obdachlosen helfen? Es ist wichtig, Schlafplätze zu melden. Wenn jemand pfeift, sollte man schauen, ob die Person in Gefahr ist und wenn Gefahr besteht, 133 rufen. Wir verteilen gerade deswegen Trillerpfeifen und Alarme, als Passant:in muss man aber auch hinschauen und darauf reagieren. ●

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