"Haben wir eine Zukunft in diesem Land, in unserer Heimat, das uns zunehmend als Gefahr sieht?"

27. August 2014

 

"Offener Brief an Frau Martina Salomon, Chefredakteurin des Kurier

Zum Leitartikel "Das Ende falscher Toleranz. Welchem Islam hängen die in Österreich lebenden Muslime eigentlich an? Das muss uns interessieren." vom 23.08.2014


Wien, am 25. August 2014

Liebe Frau Martina Salomon,

Gestern Nacht haben Sie mich zum Weinen gebracht.

Ich bin traurig... Traurig über das verallgemeinernde Ausgrenzen, über das Schlechtmachen und Schlechtreden und Verleumden meines Glaubens, meiner Überzeugungen, geliebter Menschen, der Musliminnen und Muslime Österreichs und dem, was ich bin. 

Ich bin Österreicherin, ich bin waschechte Wienerin, ausgegrenzt und verleumdet... Von Ihresgleichen... Weil nicht katholisch, weil nicht agnostisch oder andersgläubig, sondern weil muslimisch..

Ich frage Sie, wo sind Respekt und Nächstenliebe?
Ich fühle mich hintergangen und verleumdet, wenn ich diesen Artikel lese... Den Artikel einer Journalistin, die keinen Kontakt zur muslimischen Community und keine Ahnung hat, was in Österreich passiert abseits Ihrer Parallelwelt in der Wiener Innenstadt. Haben Sie eine Ahnung, was Ihre Worte bewirken? Was Ihre Worte für Menschen bedeuten?
Woher nehmen Sie sich das Recht meine Existenz infrage zu stellen? Wie kommen Sie auf die Idee, ISIS oder andere Verrückte hätten mehr Legitimität über den Islam als die Musliminnen und Muslime Österreichs?

Als ich gestern Nacht Ihren Artikel gelesen habe, habe ich weinend zu meinen zwei kleinen Kindern, ein und drei Jahre alt, gesehen, wie sie friedlich in ihren Betten schliefen und mir die Frage gestellt, die ich mir noch nie derart gestellt hatte: Haben wir, haben meine zwei kleinen, unschuldigen Engel, eine Zukunft in diesem Land, in unserer Heimat, das uns zunehmend als Gefahr sieht?

Ich bin es leid, mich als bekennende, praktizierende Muslimin aus Österreich erklären, rechtfertigen zu müssen, dass ich Teil meiner Gesellschaft bin, nur weil ich anders aussehe, anders heisse oder an etwas anderes glaube als die Mehrheit!

Falls Sie wissen wollen, wer diese Frau ist, die Ihnen schreibt: Meine Familie ist seit fast einem halben Jahrhundert Teil der österreichischen Gesellschaft. Sie haben dieses Land nach dem 2. Weltkrieg mit aufgebaut. Meine Grosseltern haben schon in Österreich gelebt. Sie und ihre Kinder haben alle gearbeitet. Es gab kein Ausruhen. Meine Eltern haben sich hier kennengelernt, verliebt und hier haben sie geheiratet. Hier bin ich zur Welt gekommen. Ich war als Baby nicht lange mit meiner Mutter zuhause. Sie hat mich früh in eine Krippe geschickt und wieder gearbeitet, in der Wäscherei, wo sie davor hochschwanger mit mir, an der grossen Dampfpresse gearbeitet hat, in der Hitze im Hochsommer, und ich, vermutlich durch diese Anstrengungen, früher als erwartet das Licht Wiens erblickte. Hier in Wien bin ich in den Kindergarten, ins Gymnasium und zur Uni gegangen. Hier bin ich erzogen, mitgeprägt und groß geworden. So wie viele andere auch.

Ich bin heute Ärztin und habe sowohl während der Studienzeit als auch nach meiner Promotion gearbeit, in verschiedenen Bundesländern Österreichs, da es zu dem Zeitpunkt schwer war, in Wien eine Arbeit zu finden. Ich schreibe das dazu, weil ich das Vorurteil allzu gut kenne, dass muslimische Familien "Sozialschmarotzer" seien..

Falls Sie jetzt denken, was sich viele denken werden, möchte ich festhalten: 
Ich bin keine Ausnahme und keine Minderheit! Es gibt eine wachsende Anzahl an muslimischen Österreicherinnen und Österreichern, die eine gute Ausbildung haben, an der Berufswelt und am sozialen Leben Österreichs teilnehmen. Wer es sehen will und die Augen öffnet, der/die sieht es auch... 
Sehen Sie sich auch um. Öffnen Sie Ihre Augen!

Was soll dieser anscheinend ohne jegliches Vorwissen und jeglicher Recherche geschriebene, von Vorurteilen protzender, alles anderem als der Realität entsprechende Artikel???

Wie gesagt: Ich bin Muslimin, Österreicherin und ich bin Wienerin. Österreich und Wien sind ein großer Teil von mir sowie ich ein Teil Österreichs und Wiens bin.

Ich hoffe und bete zu Gott, dem Gott aller monotheistischen Religionen, dass das meine letzte Träne zu diesem Thema war und dieser Brief meine letzte Rechtfertigung meines Daseins sowie der Existenz muslimischer Österreicherinnen und Österreicher war.

Die notwendige und menschliche Verurteilung von Terror darf nicht zur Paranoia gegenüber allem Islamischen werden. In schweren Zeiten wie dieser sind wir alle herausgefordert, gemeinsam, Hand in Hand, für Frieden und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu sorgen. Hetze und verbale Aufrüstung werden Gewalt bringen so wie es vor wenigen Tagen auch in Favoriten passiert ist. Wir brauchen differenzierte und sensible Worte um den sozialen Frieden in unserem Land zu gewährleisten."

Mit freundlichen Grüßen,
Dr.med.univ. Emel Yücel

Kommentare

 

Wieso Verleumdung? Salomon fragte im Artikel "Welchem Islam hängen die in Österreich lebenden Muslime eigentlich an?" Salomon schrieb auch nicht "alle Muslime", sondern "große Teile".
Ich weiss nicht wie groß der Teil ist, aber ich kann nur wieder sagen: In Österreich demonstrierten hunderte Muslime wegen lächerlicher Karikaturen gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit; heute gehen demgegenüber offensichtlich viel weniger Muslime gegen den Terror demonstrieren.

Ist da diese Frage dann nicht angebracht? Was hat das mit Verleumdung zu tun? Der Islam wird ja eher von den IS-Versagern verleumdet, aber da liest man keine empörten offenen Briefe. Und Salomon beschreibt nur das Bild, was sich der Öffentlichkeit halt leider bietet: gegen Grundrechte wird demonstriert, aber nicht gegen Terror.

Und bezüglich Recherche und Vorurteile und Ausgrenzung gibts hier leider ein paar nicht so rosige Fakten: http://religion.orf.at/stories/2619481/

kleiner Auszug:

„Die Regeln des Koran (der Bibel) sind mir wichtiger als die Gesetze Österreichs.“
Muslime: 73%, Christen: 13%

„Ich möchte keine Homosexuellen als Freunde haben.“
Muslime: 69%, Christen: 15%

„Juden kann man nicht trauen.“
Muslime: 63%, Christen: 11%

„Die westlichen Länder wollen den Islam zerstören.“ bzw „Die Muslime wollen die westliche Kultur zerstören.“
Muslime: 66%, Christen: 25%

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