Iran: Das ist kein Protest, das ist eine Revolution

20. Oktober 2022

In der Öffentlichkeit singen und tanzen? Oder einfach anziehen können, was man will? Die Protestierenden im Iran setzen alles aufs Spiel im Kampf für die Freiheit und ein Ende der Islamischen Republik. Drei Frauen berichten, warum sie aus der Diktatur flüchten mussten, und wovon sie träumen.

 

Von Sara Mohammadi, Fotos: Lisa Leutner

 

 

POPSTAR UND FLÜCHTLING: SHARHZAD MOHAMMADI AKA SHERY M

 

Foto: Lisa Leutner
Foto: Lisa Leutner

 

Sherys Probleme mit der iranischen Justiz begannen, als sie einen Vertrag bei einem Record-Label unterschrieb: „Sie fingen plötzlich an, mich und andere Musiker:innen zu verfolgen, nacheinander wurden wir inhaftiert. Auch ich bekam eine Vorladung, zur Polizeistation zu erscheinen, und zog daraufhin drei Monate lang von einer iranischen Stadt zur nächsten, immer auf der Hut. Ich kam mir wie eine Schwerverbrecherin vor. Dabei habe ich einfach Popmusik gemacht”, erinnert sie sich. Shery M ist eine Sängerin und Songwriterin aus Tehran, der Hauptstadt des Iran. 2016 ist sie vor dem dortigen Regime geflohen. „Das war damals eine schwierige Zeit für mich. Doch irgendwann wurde meine Bekanntheit zu einem Problem. Ich hätte ins Gefängnis gehen müssen”, erzählt sie. Frauen ist das Singen in der Öffentlichkeit verboten, Musik - vor allem politische - wird stark zensiert. Zuletzt wurde der iranische Sänger Shervin Hajipour festgenommen, nachdem sein politisches Protestlied “Baraye” (Farsi: für, wegen) auf Instagram viral ging.

 

Generation Z als führende Kraft

 

Shery steht in engem Kontakt mit den Menschen im Iran, viele schicken ihr Fotos und Videos von den Protesten zu, bei der vor allem junge Menschen eine wichtige Rolle spielen: „Das Besondere an diesen Protesten ist, dass sie auch von vielen Leuten der “neuen” Generation getragen werden. Ihr würdet die, die Proteste anführen, GenZ nennen. Sie sehen gerade sehr schlimme und schreckliche Szenen auf den Straßen“, so Shery. „Es kämpft keiner wegen Hunger oder Armut, es geht auch nicht einmal mehr nur um das Kopftuch. Es geht um die großen Wünsche und Hoffnungen.” Da im Iran keine freie Presse herrscht und kritische Journalist:innen festgenommen werden, übernehmen viele Menschen vor Ort die Rolle von Berichterstatter:innen. Die Fotos und Videos werden oft von berühmten Iraner:innen mit einer großen Followerschaft im Ausland weiterverbreitet. „Menschen schreiben mir: Bitte seid unsere Stimme und verbreite im Ausland, was hier geschieht!”

Shery zufolge seien diese Proteste auch außergewöhnlich, weil sie über bisherige gesellschaftliche Grenzen hinweg Verbindungen und Einigkeit schaffen. Beispielsweise kursieren Bilder von Frauen mit Hijab, die Seite an Seite mit Frauen ohne Hijab protestieren. „Der Kern dieser Proteste ist Zusammenhalt und Solidarität. Und das Streben nach Freiheit”, erklärt die 30-Jährige. In Sherys Fall war es das Verbot, als Frau öffentlich singen zu dürfen, und wenn sie doch einmal auftrat, dann unter strengen Auflagen: „Als Teenager habe ich als Solistin bei einer Operngruppe gesungen. Doch ich durfte nie vorne auf der Bühne als Solistin stehen, da ich eine Frau war. Dieses Verstecktwerden hat sich durch meine ganze Musikkarriere gezogen. In vielen Musikvideos war ich nicht zu sehen, ich habe mich von Shahrzad Mohammadi zu ‚Shery M‘ umbenannt, damit man mich nicht an meinem Namen erkennt. Ich habe mir viele Chancen entgehen lassen, nur damit ich im Iran bleiben darf. Ich habe mich angepasst, um in diesem System leben zu können.” Menschen im Iran, die sich nicht regelkonform verhalten, müssen sich zwangsweise an die Gegebenheiten des Regimes anpassen, ansonsten drohen Gefängnis oder der Tod. Shery konnte noch rechtzeitig fliehen. „Diesen Zwang zur Anpassung kennen, glaube ich, die meisten Menschen aus dem Iran. Aber sie machen das nicht mehr mit. Sie wollen ihre Freiheit und in Freiheit leben.”

Shery M hat vor kurzem ein neues politisches Lied namens „Vaghte Ghiam“ in Solidarität mit den Menschen im Iran herausgebracht.

 

 

ZWISCHEN ZWEI WELTEN: MAHSA ABDOLZADEH

Foto: Lisa Leutner
Foto: Lisa Leutner

 

 

Ich wünsche mir, eines Tages in Teheran am Azadi-Platz (Azadi bedeutet Freiheit auf Farsi) zu sitzen und dabei anziehen zu können, was ich will, zu singen, wenn ich will, und zu trinken, was ich will“, schwärmt Mahsa Abdolzadeh. Mahsa ist alleinerziehende Mutter, Autorin, Unternehmerin und außerdem als Mandatarin und Bezirksrätin bei den Grünen in Wien-Döbling tätig. Mit nur 18 Jahren ist sie aus dem Iran geflohen. Auch bei ihr spielte ihre Weigerung, regelkonform zu leben, eine große Rolle: „Ich habe mich nicht in das System integrieren können, habe meinen Mund nicht halten können. Mein Leben im Iran war wie zwischen zwei Fronten: Meine Familie kam aus dem linken Spektrum und meine schulische Erziehung erfolgte in einer sehr religiösen Privatschule. Ich bin damit aufgewachsen, dass mir eingetrichtert wurde, dass ich nichts, was zuhause gesprochen wird, in der Schule weitererzählen darf.“ Als Jugendliche schrieb Mahsa gemeinsam mit Freund:innen für eine regimekritische Zeitschrift. Diese wurde jedoch verboten, viele ihrer Kolleg:innen wurden verhaftet. Sie wusste, dass ihr Ähnliches drohen würde. Da sie zu dieser Zeit gerade ihre Mutter, die in zweiter Ehe einen Österreicher geheiratet hatte, besuchte, stellte sie in Wien einen Antrag auf Asyl. „Das war sehr schwierig für mich. Ich wusste, dass meine Freundinnen leiden mussten, während ich in Sicherheit war“, erzählt sie.

 

Zusammenhalt als Waffe

Heute verfolgt Mahsa, die schon viele Proteste miterlebt hat, gebannt die Bewegung im Iran und hegt große Hoffnungen auf Veränderung. „Ich verfolge die Proteste mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Einerseits sterben so viele Menschen auf der Straße, andererseits bin ich optimistisch, dass diesmal die Menschen nicht umsonst sterben und es einen Systemwechsel geben wird. Es geht nicht nur um die Haare, es geht um ein anderes System. Das wird erst mit diesen Protesten ganz klar gefordert.“ Laut der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Iran“ wurden im Zuge dieser Proteste bisher mindestens 215 Menschen getötet, 23 davon waren Kinder. Zudem kommen Tausende von Verhaftungen, zuletzt vermehrt an Schulen und Universitäten, an denen Schüler:innen und Student:innen gegen das Regime protestieren. Dabei macht die islamische Republik nicht davor halt, auch Kinder zu verhaften. Die Verbrechen der Regierung gegen die eigene Bevölkerung bringen aber auch den starken Zusammenhalt der Gesellschaft zum Vorschein. Beispielsweise fuhren während der Einkesselung von Student:innen der Sharif-Universität in Teheran, die zu massenhaften Inhaftierungen und Tötungen führte, viele Menschen mit ihren Autos zur Universität, um den Studierenden zu helfen. Auch als das berüchtigte Evin-Gefängnis in Tehran brannte (es gibt Vermutungen, dass die Regierung dahinter steckt), protestierten die Menschen in Solidarität mit den Gefangenen, die vor allem aus Regimekritiker:innen bestehen.

 

Internationale Berichterstattung wichtig

Dieser Zusammenhalt macht auch für Mahsa den besonderen Charakter dieser Proteste aus und lässt sie auf einen neuen Iran hoffen - auf einen Iran, der Frauen- und Menschenrechte respektiert, in dem es keine Kinderarbeit mehr gibt und auf die Umwelt und Tiere geachtet wird. Wichtig ist laut Mahsa, dass seitens der Politik und der Medienberichterstattung genau auf den Iran geschaut wird: „Diktatorische Regime schotten sich gerne ab, der Schutz der iranischen Menschen kommt von außen in Form von medialer Berichterstattung. Ich weiß aus Erfahrung, dass man für Proteste viel Hoffnung braucht. Diesen bekommt man auch durch internationale Berichterstattung. Die internationale Gemeinschaft sollte wissen, dass das Regime des Landes von den Menschen nicht gewollt ist.”

 

 

 

GEMEINSCHAFT DER ENTRECHTETEN: EVEN M. ASSAD

Foto: Lisa Leutner
Foto: Lisa Leutner

 

Ein großer Teil meiner Familie war im Irak im Widerstand gegen das Baath-Regime organisiert. Als Kurden wurden einige meiner Familienmitglieder, wie meine Onkel und mein Großvater, von ihnen umgebracht”, erzählt Even M. Assad. Ein Teil der Familie floh in den Iran. Doch auch im Iran war die Situation der Kurd:innen nicht einfach. Kurd:innen wurden als „Ungläubige“ stigmatisiert, weil sie ihre ethnische Selbstbestimmung beibehalten wollten. Ayatollah Khomeini, der der Diktator vor dem aktuellen Diktator Khamenei war, sprach 1979 eine “Fatwa” gegen das kurdische Volk im Iran aus. Tausende Kurd:innen wurden ermordet oder zu politischen Gefangenen. „Diese blutige Vergangenheit ist bei diesen Protesten auch ein Grund dafür, warum das Mullah-Regime in den kurdisch bewohnten Städten eine extreme Militärpräsenz zeigt, und auch unbeteiligte Zivilist:innen, teilweise in ihren Wohnungen, angreift”, erklärt Even. Es gebe zudem die Befürchtung bei Kurd:innen, dass sie, wenn das Mullah-Regime stürzen sollte, zwar in einem freien Iran aufwachen, als Minderheit aber erst wieder nicht zu den Befreiten gehören würden.

Even ist 1986 in Kirkuk, einer südkurdischen Stadt im Nord-Irak geboren. Sie hat Familie in Mahabad und Bokan (kurdische Städte in Rojhalat bzw. im Nordwesten des Iran) und in Bandar Abbas. Even ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Mutter und berichtete als freie Journalistin 2014 über den IS-Einmarsch im Irak und in der autonomen Region Kurdistan. Ihre Familie musste im Zuge der Anfal-Operationen, in denen die irakische Baath-Regierung systematisch Kurd:innen und andere Minderheiten verfolgte und ermordete, in die kurdischen Provinzen im Iran fliehen. Und nach dem Iran-Krieg floh ihre Familie auch aus dem Iran und landete nach einer langen Fluchtgeschichte in Österreich.

 

Minderheiten im Iran

„Bei diesen Protesten kann man eigentlich bereits von einer Revolution reden. Das Besondere daran ist, dass das Regime von Anfang an keine Chance hatte, die verschiedenen ethnischen, religiösen oder sexuellen Gruppierungen gegeneinander auszuspielen. In den Sozialwissenschaften nennen wir diese Gruppen fragmentierte Schicksalsgemeinschaften.” Sie beschreibt eine Gruppe von Menschen, die sich dauernd in einer Bedrohungssituation befindet. Bei diesen Protesten fügen sich diese Fragmente zu einem Puzzle zusammen und werden zu einer Gemeinschaft, einer Gemeinschaft der Entrechteten, so Even. Das Regime war nicht gut vorbereitet und hatte nicht genug Zeit, zu reagieren und seine Propaganda zu verbreiten, um die verschiedenen Gemeinschaften zu spalten. Einen Versuch starteten die Machthaber: Als das iranische Regime mit einem großen Militäraufgebot das Gebäude der PDKI, die Kurdisch Demokratische Partei des Iran, in der Provinz Erbil angriff, wollte sie laut Even einen ethnischen Konflikt kreieren: „Die PDKI ist jedoch strategisch nicht darauf eingestiegen. Das Regime soll sich keinen Sündenbock für die Proteste erschaffen dürfen.”

 

Das ist kein Protest, das ist eine Revolution

Die Proteste haben sich mittlerweile über das ganze Land, über sämtliche Ethnien und sozialen Klassen hinweg, ausgebreitet. Für Even ist ganz klar: Es gibt keinen Weg mehr zurück, die Menschen geben sich nicht mehr mit Reformversprechungen zufrieden. „Die Menschen im Iran akzeptieren das System, diese Diktatur, nicht mehr. Ich glaube, die Menschen geben sich nicht mehr zufrieden, bis die Revolution erfolgreich sein wird.” Sie betont nochmals die Rolle der jungen Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind und wissen, wie Menschen außerhalb von Diktaturen leben. „Diese schauen kein staatliches Propagandafernsehprogramm, sie sind auf Instagram und TikTok unterwegs. Da funktioniert das mit der Propaganda nicht mehr. Wenn sie das Handy ausmachen, realisieren sie, in welchem Gefängnis sie leben. Solche Bilder und Videos entfachen den Zündstoff für eine Revolution.”

 

Foto: Lisa Leutner
Foto: Lisa Leutner

 

 

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