Jede Generation hat eine Deportation erlebt

29. Juni 2015

Tamila ist Krimtatarin. Ihre Familie wurde einst deportiert, ihre Freunde werden immer noch politisch verfolgt. Im biber-Interview erzählt sie über ihr Volk, das nicht aufgibt und wie es zur Krim-Annexion steht. 

Von Lidiia Akryshora

Tamila sieht in der Realität noch hübscher aus als auf den Bildern. Sie hat schwarze, lockige Haare und mutige Augen. Es war schwierig einen Interviewtermin mit ihr zu kriegen, da Tamila rund um die Uhr beschäftigt ist. Neben ihrem PR-Job betreut sie die Initiative „KrimSOS“, die sich um Krimflüchtlinge kümmert. Ein Herzensanliegen.

tamila tasheva hromadske radio Krimtatarin
Foto: Hromadske Radio

Was die wenigsten wissen: 1944 wurden mehr als 200 000 Krimtataren von der sowjetischen Regierung aus der Krim nach Zentralasien deportiert. Viele von ihnen kehrten nach knapp einem halben Jahrhundert wieder zurück – als es ihnen offiziell erlaubt wurde. Heute leben nur mehr 300.000 dieser muslimischen Minderheit auf der Halbinsel. Mit der Annexion der Krim durch Russland hat sich die Lage für die Krimtataren gewaltig verschlimmert: Drohungen, Hausdurchsuchungen und einer ihrer TV-Sender wurde geschlossen. Sie sind Gegner der Annexion, stehen klar zur Einheit der Ukraine. Heute leben viele der Krimtataren in Angst. 

biber: Tamila, du bist Krimtatarin. Was heißt das überhaupt?

Tamila Tascheva: Die Krimtataren sind die Stammbevölkerung der Krim. Wir hatten einen eigenen Staat, der im 15. Jahrhundert entstanden ist und weltweit verehrt wurde. Damals pflegten wir diplomatische Beziehungen mit allen Ländern Europas.

1944 wurden ca. 200 000 Krimtataren aus der Krim von der Sowjet-Regierung deportiert. Offizieller Grund dafür war die Zusammenarbeit einiger Krimtataren mit Nazi-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs. Wie hat deine Familie diese Ausweisung erlebt?

Meine Mutter war fünf Jahre alt, ihre Schwester eineinhalb. In Sevastopol hatte meine Oma in einer Fabrik gearbeitet. Als die deutschen Truppen Sevastopol okkupierten, wurden sie alle zusammen nach Österreich ins Konzentrationslager geliefert. Später, nachdem die sowjetischen Truppen das KZ befreit hatten, wurde meine Urgroßmutter mit allen anderen Gefangenen in den Güterwagen durch Bessarabien nach Usbekistan geschickt. Mein Urgroßvater hatte Angst davor, als Fahnenflüchtiger bezeichnet zu werden. Obwohl er in der sowjetischen Armee diente und nur für ein paar Tage auf Urlaub nach Sevastopol kam, wurde er gleich von dort nach Usbekistan deportiert. Trotzdem, auch nach der Ausweisung hat er an die Sowjet Union geglaubt.

tamila tasheva  Krimtatarin
Das Symbol zum Gedenktag an die Deportation der Krimtataren (2015)

1989 hat die sowjetische Regierung den Krimtataren erlaubt, auf die Halbinsel zurückzukehren. Welche Kindheitserinnerungen hast du von eurer Rückkehr?

Ich bin in Usbekistan geboren und mit 5 Jahren mit der Familie nach Simferopol zurückgezogen. Meine Erinnerungen waren anfangs nicht die Besten. Wir hatten ein kleines Haus mit nur zwei Räumen, das komplett leer stand. Wir hatten nicht einmal Fensterscheiben, dafür reichte das Geld nicht. Als Kind verstand ich nicht, warum wir aus dem schönen zweistöckigen Haus in Usbekistan in so ein Kleines auf der Krim zogen.

Du lebst jetzt in Kiew. Warum hast du die Krim verlassen? Wie geht es deiner Familie dort jetzt?

Ich bin vor acht Jahren nach Kiew umgezogen. Ich habe ein Praktikum beim Parlament in Kiew absolviert und dann gearbeitet.

Meine Eltern sind auf der Krim geblieben und verzichten kategorisch darauf, von der Halbinsel wegzuziehen. Meine Großeltern haben schon einmal das Land verlassen, diese Erfahrung möchten meine Eltern nicht mehr machen.

Wie sieht die Krim nach einem Jahr der Annexion jetzt aus?

Während des letzten Jahres hat Russland alle möglichen und grundlegenden Menschenrechte verletzt. Warum werden die Krimtataren besonders verfolgt? Sie sind die am Meisten in sich geschlossene Gruppe auf der Halbinsel, welche gegen die russische Okkupation kämpft. Sie sind zu den Demonstrationen gegangen,  haben offen ihren Führer Mustafa Dschemiljew begrüßt. Deswegen werden jetzt die Häuser von Krimtataren durchsucht, da es ihnen beispielsweise verboten ist, Gedenktage oder Feiern abzuhalten. Man will die Geschichte der Krimtataren willentlich vergessen.

tamila tasheva  Krimtatarin
Foto: Elvir Sagyrman

Trotzdem gelten einige als prorussisch?

Prorussische Krimtataren sind weniger als ein halbes Prozent auf der Halbinsel. Gleichzeitig werden viele Menschen gezwungen, die russische Pässen zu nehmen. Aber nicht alle, die einen russischen Pass haben, sind automatisch für Russland. Der Punkt ist, dass man ohne russischen Pass auf der Krim einfach nicht überleben kann. Die meisten Krimtataren haben eine Nostalgie für die Ukraine und hoffen, dass bald die Krim wieder ein Teil der Ukraine wird. 

Warum ist die Mehrheit der Krimtataren für die Ukraine?  

Die Krimtataren mögen Russland nicht, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Russland ist der Rechtsnachfolger der Sowjetunion, deswegen sollte es die Verantwortung für die Deportation 1944 übernehmen. Als die Krimtataren in den späten 80ern-, Anfang der 90er Jahre zurückkamen, war die Krim ein Teil der Ukraine. Man versuchte uns so wenig Spielraum zur Rückkehr auf die Halbinsel wie möglich zu geben.   

Wie viele Krimtataren haben seit der Annexion die Krim verlassen?

Nach offiziellen Angaben haben 20 000 Menschen, nach inoffiziellen  45 000 Menschen, die Insel verlassen.

Warum bleiben die meisten Krimtataren trotzdem auf der Halbinsel?

Unserem Volk ist es schon schwergefallen, im eigenen Land zu bleiben.  Als die Sowjet-Union die Rückkehr erlaubte, sind plötzlich alle wieder zurückgefahren. Diese Bindung an unser Land ist sehr wichtig und wertvoll für uns. Studenten, die auf Ukrainisch studieren möchten und Unternehmer, die keine Möglichkeit haben, das Geschäft zu entwickeln verlassen die Krim.

Was wünschest du dir für die Zukunft der Krimtataren?  

Ich wünsche mir eine unabhängige krimtatarische Krim im ukrainischen Staat. Aber eine Krim, wo alle anderen Völker respektiert werden.

Zur Person: Tamila Tascheva, 30 Jahre alt, PR-Spezialistin, Aktivistin der ukrainischen Kulturbewegung, Co-Gründerin der Initiative KrimSOS

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Foto: Yevgeniya Andreyuk

Infobox:

KrimSOS ist ein Projekt, das von Freiwilligen im Zusammenhang mit dem Beginn der Besetzung der Autonomen Republik Krim von der Russischen Föderation erstellt wurde. Das Projekt wurde am 27. Februar 2014 gegründet. KrimSOS ist der Durchführungspartner des UNHCR in der Ukraine. Zuerst hat die Initiative als Informationsplattform gedient. Jetzt hilft KrimSOS den Flüchtlingen aus der Krim und Ostukraine mit informations- und juristischer Hilfe, der Wohnungs- und Jobsuche. Offices KrimSOS sind in Kiew, Lviv und Kherson. Remote-Initiative ist in allen Regionen der Ukraine.

Mustafa Dschemiljew kommt aus der Krim. Dschemiljew ist Dissident, Aktivist und ein ukrainischer Politiker. In der Zeit der Sowjetunion setzte er sich aktiv für Menschenrechte und besonders die Belange der Krimtataren ein. Seit 1989 ist er Vorsitzender der Nationalen Bewegung und krimtatarischer Nationalen Versammlung Qirimtatar Milliy Medschlis. Nach der Annexion der Krim wurde Dschemiljew für fünf Jahre verboten, auf die Krim einzureisen.

Deportation 1944. Am 18 .Mai 1944 wurden 193 865 Krimtataren deportiert. Offizieller Grund dafür ist die Zusammenarbeit einiger Krimtataren mit Nazi-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs. Ungefähr die Hälfte von ihnen ist unterwegs oder während einem Jahr gestorben. Sie wurden meistens nach Usbekistan, Kasachstan und Tadschikistan ausgewiesen. Erst 1989 hat die sowjetische Regierung ihnen erlaubt, auf die Krim zurückzukehren.

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