Mustafa ist tot

17. Juli 2018

Morteza Heidari geht es nicht gut. Er kann nachts nicht schlafen und hat regelmäßig Panikattacken. Dieser Text soll den 23-jährigen Afghanen therapieren.


Wenn mich wer fragt, dann sage ich, ich bin Afghane. Aber stimmt das überhaupt? Denn ich war noch nie, keine Sekunde lang, in diesem Land. Ich besitze keinen afghanischen Pass. Und der Iran, das Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, gibt mir schon gar keine Papiere. Wir Afghanen sind nichts weiter als Illegale im Iran, verachtet, verfolgt, gedemütigt. Mein Vater arbeitete als Schneider, daheim im Wohnzimmer, von frühmorgens bis spätabends. Ich durfte zur Schule gehen. Meine Eltern kratzten das Geld dafür irgendwie zusammen, so lange es eben ging. Als es nicht mehr ging, musste ich arbeiten, mal dies, mal jenes, auf Baustellen, in Lagern, auf dem Markt, in Restaurants. Wie gerne hätte ich die Schule abgeschlossen.

Was mich im Iran besonders gestört hat: der Hass auf uns Afghanen, die verdammte Unfreiheit, die ständige Kontrolle – und die Religion. Als meine Familie in Schwierigkeiten geriet, begann mein Vater immer mehr zu beten. Schon um fünf Uhr früh mussten wir aufstehen, um zum ersten Mal Allah anzubeten. Ich dachte mir: Vater, wenn du so viel betest, wenn du alle Regeln so streng einhältst – wieso hilft dir dann dein Allah nicht? Heimlich hörte ich amerikanische Rapper. Ich wollte werden wie sie, ich wollte mit Musik ausdrücken, was alles falsch läuft in diesem Land. So begann ich Farsi-Rap zu machen. Nur: Diese Musik ist im Iran verboten. Als ich meine Raps in einem versteckten Studio aufnehmen lassen wollte, rief ein Nachbar die Polizei. Ich hatte Glück, kam mit einer Geldstrafe davon. Mein Vater gab mir eine Ohrfeige und sagte: Das hätte dich den Kopf kosten können! Ich war fünfzehn damals.

Alle haben immer nur davon gesprochen, wie schön es wäre, nach Europa zu gehen. Dort ist Freiheit, dort gibt es Arbeit, hieß es. Dort ist das Leben leichter. Viele Familien bezahlten viel Geld, um ihre Söhne dorthin zu schicken. Meine Familie hatte kein Geld.

Eines Tages kam ein Freund zu mir: Er habe ein wenig zusammengespart, damit könne er in die Türkei gelangen. Und dann würde es schon irgendwie weitergehen. Ob ich ihn begleiten möchte? Sein Geld würde auch für zwei reichen. So sind wir auf die Flucht gegangen – von einer Minute auf die andere, ohne nachzudenken, ohne Abschied zu nehmen.

Von Traiskirchen nach Kabul

Eigentlich mag ich nicht daran denken, meine Nächte werden schwer, wenn ich es tue. Nicht denken an die Toten im Gebüsch neben dem Schleichpfad, halb verwest, kleine Kinder, Frauen, Männer, wohl an die zwanzig arme Menschen. Sie waren vor uns diesen Weg entlanggeschlichen – und nicht durchgekommen. Oder das Schlauchboot, mit dem wir aufs Meer hinausfuhren. Unvorstellbar, was geschah, als sich die Küstenwache näherte. Der Schlepper, der uns führte, zog sein Messer und stach in den Boden des Bootes. Wir gingen so rasch unter, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Die Leute schrien, aber die meisten besaßen Schwimmwesten, ich nicht. Und ich konnte nicht schwimmen. So sank ich fünf Meter tief, stieß mich wieder nach oben. Dort packte mich ein Fluchtgefährte am Arm und hielt mich fest. Er hat mein Leben gerettet.

Unterwegs, in Ungarn, lernte ich Mustafa kennen, Afghane, so alt wie ich, geboren und aufgewachsen im Iran. Wir freundeten uns an, schlugen uns auf getrennten Wegen irgendwie nach Österreich durch, trafen uns in Traiskirchen wieder, wurden erneut auseinandergerissen. Ich kam nach Wien, er ins Burgenland. Aber wir hielten Kontakt, sprachen mehrmals in der Woche miteinander. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, auch das Gericht sah keinen Grund, Mustafa Schutz zu gewähren. Dann ging es sehr schnell. Eines Tages schickte ich ihm eine WhatsApp-Nachricht. Seine Antwort: Morgens um vier sei die Polizei gekommen, habe ihn aus dem Bett geholt und zum Flughafen gebracht. Nun sei er in Kabul und lebe auf der Straße. Das Geld, das ihm in Österreich versprochen worden sei, bekomme er erst in zwei bis drei Monaten. Und das Übergangsquartier für Abgeschobene sei leider voll. Er möge doch zu Verwandten oder Freunden gehen, habe man ihm gesagt. Dass er keine Verwandten und Freunde hier hätte, habe er geantwortet. Der Beamte habe nicht einmal von seinen Papieren aufgeblickt und einfach mit den Achseln gezuckt.

Funkstille

Das Kontakthalten mit Mustafa wurde immer schwieriger, immer seltener hörte ich von ihm, konnte ihn schließlich gar nicht mehr erreichen. Das machte mir Sorgen. Ich kannte seinen Vater im Iran, den rief ich an. Als der Mann meine Stimme hörte, sagte er, ohne meine Frage abzuwarten: „Mustafa ist tot!“ Es sei ein Anschlag gewesen, in Kabul. Die Polizei habe Mustafas Handy gefunden und die dort gespeicherte Nummer seiner Eltern gewählt. Ich wollte nicht weiter fragen, der Mann wollte nichts weiter sagen. Später versuchte ich herauszufinden, was passiert ist, habe im Internet gesucht, welcher von den vielen Anschlägen es gewesen sein könnte. Ich weiß es nicht, werde es wohl nie erfahren. Vielleicht war es am 3. Mai 2017 passiert, als die Daesch eine Bombe neben einem Militärkonvoi explodieren ließen und acht unbeteiligte Passanten getötet wurden. War Mustafa unter ihnen gewesen? Ich hoffe, dass es schnell gegangen ist, ich hoffe, dass er nicht leiden musste.

Drei Jahre bin ich nun schon in Österreich. Drei Jahre lang warte ich auf eine Entscheidung, ob ich hier bleiben und eine bessere Zukunft aufbauen kann. Oder ob ich in ein Flugzeug gesteckt und in ein fremdes Land gebracht werde, wo Armut, Terror und Tod herrschen. So, wie es Mustafa ergangen ist, meinem Freund.

Mitarbeit: Kurt Bauer

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