„Opa, mit dir war nie etwas falsch!“ - Was ich meinem schwulen, verstorbenen Opa gerne noch alles sagen würde.

17. Mai 2023

„Egal ob tot oder lebendig, mit welcher Person würdest du am liebsten einmal zu Abend essen?“. Vielleicht ist euch diese Frage auch schon einmal untergekommen – in Form eines Partyspiels womöglich oder als „auflockernde“ Übung bei irgendeiner unangenehmen Kennenlernrunde. Unangenehm hin oder her, seit einer Weile habe ich jedenfalls eine definitive Antwort für mich gefunden: mit meinem Opa. Nicht etwa, weil ich keine Erinnerung mehr an ihn habe und das ändern möchte. Auch nicht, weil ich ihn konfrontieren möchte, warum er seiner Familie das Leben teilweise so schwer gemacht hat: cholerisch, untreu, oft tagelang weg und das ganze Geld verprasst, inklusive dem, das meine Oma eisern für ein neues Bad gespart hatte. Diese Themen würden vielleicht zwangsläufig aufkommen bei unserem Abendessen. Aber der Grund, warum ich gerne noch einmal die Gelegenheit hätte, mit ihm zu sprechen, ist ein anderer: Mein Opa war schwul. Die „Frauengeschichten“, die ihm meine Familie jahrelang unterstellt hatte, waren in Wirklichkeit „Männergeschichten“. Er ist gestorben, als ich ein kleines Kind war. Als die geoutete bisexuelle Frau, die ich heute bin, konnte er mich nicht mehr kennenlernen. Genauso wenig durfte meine Familie jemals den schwulen Mann kennenlernen, der er in Wirklichkeit war.

Opa hat es leidgetan

Es tut mir weh, wenn ich daran denke, wie mein Opa ein ganzes Leben damit verbracht hat, einen Teil von sich zu verstecken. Erst nachdem meine Großeltern schon drei Kinder hatten, wurde aus dem Geheimnis, das er jahrelang alleine mit sich herumgetragen hatte, ein offenes Geheimnis zwischen ihm und meiner Oma. Ob es dadurch leichter für meinen Opa wurde, weiß ich nicht. Nach außen hin blieb er jedenfalls der gleiche unzugängliche Papa, der gleiche Bruder, Arbeiter und Ehemann wie davor. Mein Papa und seine Geschwister mussten zuerst erwachsen werden, bevor meine Oma ihnen erzählte, was nur sie über meinen Opa wusste. Ich glaube, mir hat sie es erzählt, weil wir immer schon einen besonderen Draht zueinander hatten. Mein eigenes Coming-out lag damals noch in weiter Ferne. Dass heute die ganze Familie darüber Bescheid weiß, wer mein Opa noch war, ist einem Weihnachtsgeschenk geschuldet, von dem ich mir bis zum Schluss nicht sicher war, ob ich es meiner Oma überhaupt schenken soll. Es war ein Buch mit dem Titel „Erzähl Mal, Oma...“, das an die beschenkte Person alle möglichen Fragen zu ihrem Leben stellt und viel Platz für selbstgeschriebene Antworten und Fotos lässt. Das Buch machte, nachdem es fertig ausgefüllt war, die Runde durch meine Verwandtschaft. Alle haben die Zeilen über meinen Opa gelesen, die gerade eindeutig genug waren, um zu wissen, dass er schwul war. Trotzdem habe ich immer noch das Gefühl, dass ich das Thema nicht einfach zum Tischgespräch bei meiner Verwandtschaft machen könnte. Meine Schwester war die Einzige, die offen mit mir darüber geredet hat, nachdem sie das Buch gelesen hatte. Wenn meine Oma über das Thema spricht, dann immer noch verhalten und immer nur bruchstückhaft. Von einer Sekunde auf die andere ist es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, hat sie mir einmal erzählt. Die Fotos von diesem Mann, die sie damals im Auto meines Opas gefunden hatte, auf einmal machten sie Sinn. Ein anderes Mal sagte sie mir, dass sie sich erst ab da frei machen konnte, von der Idee einer glücklichen Ehe, die mit meinem Opa nie möglich war. Wirklich ausgesprochen haben es meine Großeltern nur einmal voreinander – und selbst da war die Scham zu groß, die Dinge wirklich beim Namen zu nennen. Mein Opa sagte nur, dass es ihm leid tue, dass er selbst gerne anders wäre, aber dass sich daran nichts ändern lasse.  

Heutzutage nennt man das Coming-out, Opa.

Wenn wir noch einmal die Gelegenheit hätten, gemeinsam zu Abend zu essen, ich wüsste genau, was ich meinem Opa sagen würde: „Vielleicht hast du es von oben aus verfolgt, aber weißt du eigentlich, was sich innerhalb von zwei Generationen getan hat? Opa, ich habe eine Freundin. Wir wohnen seit über einem Jahr zusammen. Und wenn wir wollten, könnten wir sogar jederzeit heiraten. Oma und Papa haben sie wirklich sehr lieb, alle haben sie wirklich gerne. Und ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass ich mir mit jemandem eine Zukunft vorstellen kann, mit allem Drum und Dran. Weißt du, als ich mitbekommen habe, wie viele Hemmungen und Unausgesprochenes immer noch um deine Geschichte kreisen, da hat das die Sache nicht unbedingt einfacher für mich gemacht, mich selbst zu öffnen vor den anderen. Heutzutage nennt man das Coming-out, Opa. Aber weißt du was, es war nicht einmal annähernd eine große Sache, als ich ihnen erzählt habe, dass ich mit einer Frau zusammen bin. Oma war kurz besorgt. Sie meint halt, dass es Leute wie ich immer noch nicht ganz so leicht haben in unserer Gesellschaft. Und damit hat sie auch Recht. Aber Opa, wie weit wir gekommen sind! Ich kann mich heute in Österreich darauf verlassen, dass die, die etwas gegen meine Lebensweise haben, in der Unterzahl sind - oder zumindest unbeliebt. Und was vielleicht am allerwichtigsten ist: Ich kann mir heute sicher sein, dass nichts, aber auch rein gar nichts, falsch ist mit mir, weil ich bin, wie ich bin. Und Opa, mit dir war auch nie etwas falsch. Es tut mir leid, dass deine Generation damals noch so weit war, das zu erkennen. Und, dass du das Gefühl hattest, dass du nicht du selbst sein darfst. Aber lass mich dir eins versprechen: Ich werde mich immer dafür einsetzen, dass wir uns weiter vorwärts bewegen, damit es immer weniger Leuten so gehen muss, wie dir damals.“

 

* Es handelt sich um einen Gastbeitrag. Der Name der Autorin ist der Redaktion bekannt.

 

 

 

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