"Sine, übersetz mir das!" - Die unsichtbaren Jobs der Migrantenkinder

15. April 2020

Wenn die Deutschkenntnisse der Eltern nicht ausreichen, sind sie diejenigen, die eingreifen. Mit ihren ständigen Einsätzen als LaiendolmetscherInnen und SekretärInnen unterstützen sie ihre Familienmitglieder wie sonst niemand – Migrantenkinder sind die unsichtbaren Stützen des Systems. Das wird - wie so einiges - besonders jetzt in der Corona-Krise sichtbar.

von Šemsa Salioski 

„Sine moj, bitte kommst du ins Biro heute. Du musst Anträge für Corona-Krise anschauen, die mir Steuerberater hat vorhin geschickt, sonst ist Werkstatt am Oasch!“. Mit diesen lieblichen Worten wurde ich, als die Informationen über die konkreten Hilfsmaßnahmen für Selbstständige endlich an die Öffentlichkeit gelangt sind, von meinem Vater in sein „Biro“ gerufen. Moment, ich sollte mich um die Zukunft seines Unternehmens kümmern? Ganz genau. Ich bin nicht seine Angestellte, aber ich bin seine Tochter und das ist sowas Ähnliches, zumindest bei Migrantenfamilien. Mein Vater beherrscht sein Handwerk als Reifenmonteur einwandfrei. Aber seine Sprachkenntnisse klingen wie eine lustige Mischung aus Migrantendeutsch straight aus Brigttenau und Fast-Wienerisch. Und das reicht nicht aus, um alleine mit der Informationsflut rund um die Corona-Krise fertig zu werden. So haben ich und schließlich auch mein älterer Bruder abwechselnd mit seinem Steuerberater telefoniert, Anweisungen und Formulare übersetzt, dann ausgefüllt und sogar seine überforderten Mechaniker mit ebenso mangelnden Deutschkenntnissen und keinen eigenen „Dolmetscherkindern“ über ihre Optionen auf dem Arbeitsmarkt aufgeklärt. Dass wir uns in diesem Chaos wie Frank Abagnale aus „Catch Me If You Can“ gefühlt haben, da wir so tun mussten, als wären wir die Experten schlechthin, damit in dieser ohnehin schon verdammt unbehaglichen Corona-Situation niemand in Panik gerät, wissen natürlich nur wir. Dass die meisten Migrantenkinder Ähnliches sogar seit ihrer Jugend oder gar Kindheit für ihre Familien erledigen müssen, bleibt vor den Augen der Außenstehenden meist verborgen. 

Finanzamt ist kein Neuland mehr

Meine Volksschulklasse bestand beinahe ausschließlich aus SchülerInnen mit Migrationshintergrund, daher war dieses Phänomen für mich persönlich bereits als Kind unübersehbar. Ich kannte fast alle älteren Geschwister meiner Klassenkameraden, da diese als ÜbersetzerInnen bei allen Elternabenden anwesend sein mussten. Sie waren oft selbst nur wenige Jahre älter als ihre jüngeren Geschwister. Die ältesten Kinder ziehen in diesem Fall eben die Arschkarte. Mein Bruder hatte das Glück, dass zumindest unsere Mutter, die seit ihrem sechsten Lebensjahr in Wien lebt, diese Art von Unterstützung nie gebraucht hat. In meinem Freundeskreis sah das allerdings anders aus, da bei ihnen beide Elternteile erst viel später nach Österreich gekommen waren. Spätestens ab der Unterstufe wurden sie als LaiendolmetscherInnen eingesetzt und konnten sich immerhin darüber freuen, dass ihre Eltern die Eintragungen für Fehlverhalten im Mitteilungsheft nie verstanden haben. Neben den zahlreichen Übersetzungen rund um die Schule folgten schließlich die deutlich schwierigeren Gespräche mit Ärzten und Behördenvertretern. Sie mussten verfrüht lernen, wie das System der „Erwachsenenwelt“ funktioniert. Der einzige Vorteil: Krankenkassa, Finanzamt oder das Arbeitsamt sind im späteren eigenen Erwachsenenleben kein Neuland mehr.Neben dem „Nebenjob“ als ÜbersetzerInnen kommt für Migrantenkinder später außerdem auch die Dauertätigkeit als persönliche SekretärInnen der Eltern hinzu. In meinem Freundeskreis ist es nämlich üblich, dass alle bis heute den Großteil der wichtigen Termine für ihre Eltern organisieren. Außerdem kümmern sie sich regelmäßig um Anträge bzw. Formulare und schreiben für sie Briefe und E-Mails. 

Verborgene Schamgefühle und zu hohe Erwartungen 

Natürlich mussten sich MigrantInnen auch vor der Geburt ihrer Kinder in Österreichs Spitälern und Ämtern verständigen. In gebrochenem Deutsch haben sie sich lange alleine durchschlagen können. Später hatten sie durch den (meist) in Österreich geborenen Nachwuchs die Möglichkeit, sich vieles leichter zu machen. Doch je älter die Kinder werden, desto eher möchten sie ihre Eltern dazu ermutigen, den Alltag hierzulande zumindest etwas selbstständiger zu bestreiten, da sie nicht für immer bei ihnen wohnen werden und dadurch öfter außer Reichweite sein könnten. Eine ziemlich verkehrte Welt, oder? 

Passend dazu ist mir in meinem Gastarbeiterfamilien-Umfeld außerdem oftmals aufgefallen, dass viele MigrantInnen eigentlich über ganz passable Deutschkenntnisse verfügen und sich dennoch nicht dazu überwinden können, alleine zum Zahnarzt zu gehen. Ihnen sind der Akzent und die Grammatikfehler beim Sprechen vor ÖsterreicherInnen schlichtweg peinlich. Deswegen schweigen sie lieber und bleiben im Teufelskreis der Abhängigkeit stecken. Und auch das ist mit Sicherheit ein insgeheim unfassbar unangenehmer Umstand für einen erwachsenen Menschen. Wer genießt es schon ständig, von anderen Unterstützung zu brauchen? Das Ganze bleibt eine unausgesprochene Tatsache, von der beide Parteien wissen und die ebenfalls von beiden Seiten akzeptiert wird. 

Dennoch kommt es zwischen ihnen natürlich ebenso zu Spannungen. Der häufigste Grund sind die unrealistischen Erwartungen, vor allem an die Kinder, die in Österreich geboren und aufgewachsen sind. Das fehlerfreie Beherrschen der Landessprache wird von vielen älteren MigrantInnen nämlich schon beinahe als eine Art Zauberkraft betrachtet, die es einem ermöglichen soll jedes Gesetz, jede Ausnahmeregelung, jedes Amt, jede Adresse und jeden Arzt zu kennen. Diese lästigen Fehleinschätzungen und die scheinbar nie endende große Verantwortung, die Migrantenkinder übernehmen müssen, sind auf mentaler Ebene durchaus belastend. Man darf nicht vergessen, dass sie ab ihrer Jugendzeit auch mit dem Erwachsenwerden und somit mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind. 

Stumme Dankbarkeit für die unsichtbaren HeldInnen

Migrantenkinder finden sich trotz allem einfach damit ab, dass sie „unbezahlte Nebenjobs“als LaiendolmetscherInnen und SekretärInnen auf Lebenszeit haben. Ein Dankeschön kommt den meisten Eltern eher selten über die Lippen. Einerseits ist das in familiären Strukturen an der Tagesordnung, anderseits würde offenkundigere Dankbarkeit den Ist-doch-selbstverständlich-weil-du-mein-Kind-bist-Faktor eliminieren und ihnen ihre eigene Abhängigkeit nur noch stärker vor Augen halten. Auf den Lebenslauf kommen die zeit- und nervenaufwendigen Leistungen der Migrantenkinder natürlich auch nicht. Sie sind für Außenstehende unsichtbar. Für die Eltern bleiben sie allerdings sichtbar. Sie wissen ganz genau, was sie ihren Kindern zu verdanken haben, auch wenn sie es nicht immer laut aussprechen können und das muss manchmal auch reichen. 

 

 

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