Zwischen Polen und Belarus - Wir waren an Europas Grenze der Menschlichkeit.

06. Dezember 2021

Sie essen Blätter von den Bäumen, trinken verseuchtes Wasser und frieren im Wald. Seit Wochen versuchen Menschen aus Syrien und dem Irak, von Belarus nach Polen in die EU zu kommen. Die wenigsten schaffen es. Biber war vor Ort. Um die Sperrzone an der Grenze journalistisch zu durchbrechen, haben wir Soldaten via Tinder kontaktiert und Untergrund-AktivistInnen in den Wald begleitet.

Von Aleksandra Tulej und Soza Al-Mohammad, Mitarbeit: Julia Golachowska

"Für unsere Frauen, Frauen wie dich, werde ich in den Krieg ziehen gegen dieses Gesindel!“, schreibt Łukasz* uns auf Tinder. Łukasz glaubt, er schreibt einer Kindergärtnerin aus Warschau, die wissen will, wie es den Soldaten an der polnisch-belarussischen Grenze geht. Łukasz ist einer von über 25 Soldaten, die wir an jenem Abend kontaktieren. Was sie alle nicht wissen: Hinter diesem Tinder-Profil verstecken sich Journalistinnen, die nur wenige Kilometer von ihrem Einsatzort in einer Herberge sitzen – und auf offiziellem Weg keine Informationen vom Grenzschutz bekommen.

Polen/Belarus
(C) Karol Grygoruk / RATS Agency

„ORGANISIERTER ANSTURM AUS MINSK UND MOSKAU“

Auf offiziellem Wege an Informationen zu gelangen, ist hier an der polnisch-belarussischen Grenze gerade fast unmöglich. Seit Wochen harren an der Grenze im Wald mehrere tausend geflüchtete Menschen aus. Sie kommen aus dem Irak, Syrien oder Afghanistan. Sie hoffen in Europa auf ein faires Asylverfahren. „In nur vier Stunden kommt ihr von Minsk nach Deutschland“, wurde ihnen von Schleppern versprochen – angeblich angestiftet durch den belarussischen Machthaber Alexandr Lukaschenko. (Mehr dazu: s. Infobox unten) Die polnische Regierung hat an der Grenze eine Sperrzone eingerichtet und den Ausnahmezustand verhängt. Insgesamt liegen 183 Ortschaften in dem Gebiet. Im Grenzgebiet sind 15.000 Soldaten stationiert. Um einer „Invasion aus dem Osten“ vorzubeugen, um „die EU-Grenzen vor einem organisierten Ansturm aus Minsk und Moskau zu schützen“, so Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki.

Offizielle Bilder direkt von der Grenze kommen vom polnischen Staatsfernsehen, das von der rechtsnationalen Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość- dt.: Partei für Recht und Gerechtigkeit) kontrolliert wird. Diese Bilder zeigen, was die Regierung zeigen will. Es gibt ein klares Narrativ: Der Islam will Polen erobern, aggressive Flüchtlinge wollen Europa stürmen. Polen und Belarus liefern sich einen Propagandakrieg auf Kosten von Menschenleben: Während wir im Grenzgebiet sind, hören wir immer wieder, dass erneut jemand erfroren oder verhungert ist. In die Sperrzone auf der polnischen Seite kommen keine Hilfsorganisationen, keine medizinische Hilfe und keine JournalistInnen rein. So etwas haben wir in der EU bis jetzt noch nicht erlebt. Für die Missachtung der Sperrzone drohen Geldstrafen und bis zu drei Monate Freiheitsentzug. Wir kommen nicht rein, aber wir kommen nah ran.

Polen/Belarus
Am Grenzzaun zwischen Polen und Belarus : Fotografiert von der belarussischen Seite, hier sind Medien erlaubt. (C)Leonid Shcheglov/TASS/picturedesk.com
Polen/Belarus
Diese SMS haben unsere Reporterinnen - wahrscheinlich wegen ihren österreichischen Telefonnummern - auf ihre Handys bekommen, als sie ins Grenzgebiet hineingefahren sind. Die Nachricht richtet sich an die Geflüchteten an der Grenze. (Screenshot)

POLIZEICHECKPOINTS IM WALD

Als wir uns mit dem Auto über dunkle und steinige Waldwege dem Grenzgebiet nähern, fahren wir an mehreren Polizei-Checkpoints vorbei. Wir sitzen zu viert im Auto: Drei Polinnen mit polnischem Personalausweis und unsere Kamerafrau, die einen österreichischen Konventionspass hat – sie ist in Syrien geboren und wurde als Flüchtling in Österreich anerkannt. Dies sorgt bei den Kontrollen für unangenehme Fragen, während die Polizisten uns mit den Taschenlampen ins Gesicht leuchten. Was das für ein Pass sei, woher sie komme, wohin des Weges? Jedes Mal, wenn wir das blaue Licht in der Ferne sehen, stockt uns kurz der Atem. Dabei haben wir alle gültige Dokumente und sind in einer Zone, in der wir gerade noch sein dürfen. Aber wir merken schnell: Erwünscht sind wir hier nicht. Es ist dazu noch unglaublich kalt, um 16 Uhr ist es schon stockdunkel.

Die eisige Kälte lässt uns immer wieder daran denken, dass 15 Kilometer weiter Menschen frieren – und immer mehr von ihnen sterben. Über die App ‚Signal‘ bekommen wir von FlüchtlingshelferInnen die Information, dass gestern Nacht drei junge Männer im Wald gefunden wurden – auf der polnischen Seite. AktivistInnen haben sie in das Krankenhaus in Bielsk Podlaski gebracht – hier werden diese Menschen so lang behalten, bis sie wieder aus eigenen Kräften gehen können. Über das weitere Schicksal entscheiden die Behörden. Polen hält sich nicht immer an die Gesetze, auch nicht an die Genfer Flüchtlingskonvention. Medienpräsenz ist hier daher besonders wichtig – wäre niemand mit Kamera und Aufnahmegerät vor Ort, könnten die Grenzbeamten die Asylanträge der Geflüchteten zerreißen und sie direkt wieder nach Belarus pushen, wie uns Flüchtlingshelferin Sylwia Gillis erklärt. Wir verstecken uns gemeinsam mit den anderen JournalistInnen hinter dem Spital und laufen zum Eingang, sobald die Männer herausgeführt werden. Hinkend, ausgemagert und einen Zettel mit der Aufschrift "I WANT ASYLUM IN POLAND “ hochhaltend kommt uns ein junger Mann entgegen. Laut seinen Angaben wurde sein Vater im Irak umgebracht, er will nie wieder zurück. Grenzsoldaten führen den jungen Mann in einen Militärwagen. Angeblich wird er vorübergehend in ein Flüchtlingslager gebracht. Was mit ihm passiert ist, haben wir bis Redaktionsschluss nicht erfahren.

EINE SCHEIBE BROT FÜR 40 DOLLAR

„Dieser junge Mann, den sie gerade gesehen haben, hat seit zehn Tagen nichts außer Blätter gegessen und versifftes Wasser getrunken,“ erklärt uns Dr. Arsalan Azzadin, gebürtiger Kurde und Oberarzt des Spitals in Bielsk Podlaski. Dr. Azzadin hat viel zu tun – das hier ist eigentlich ein COVID-Spital. Es stellt sich aber heraus, dass er die Familie unserer Kamerafrau in Kurdistan kennt. Ein Zufall, mit dem keiner gerechnet hätte – deshalb bekommen wir ein kurzes Interview. Der Arzt hat vor Kurzem einen Mann behandelt, dem belarussische Soldaten für 40 Dollar eine Scheibe Brot verkauft hatten. So verzweifelt sei die Lage deruns gemeinsam mit Menschen dort im Wald. Er hat bis jetzt über 50 Geflüchtete behandelt und alle seien sie in einem katastrophalen Zustand, wie er berichtet: Stark unterkühlt, mit Lungenentzündung, einige von ihnen seien geschlagen worden – durch Soldaten, wie sie ihm erzählten. „Wir haben hier auch eine hochschwangere Frau. Ich hoffe, dass wir sie so lange wie möglich hierbehalten können. Sie und ihr Baby sind in Lebensgefahr.“ (Anm.: drei Tage später erfahren wir, dass das Baby eine Totgeburt war und auf dem muslimischen tatarischen Friedhof in Bohoniki begraben wurde.) Dr. Azzadin warnt eindringlich: „Niemand sollte mehr versuchen, über diese Route herzukommen. Ich will nicht noch mehr Menschen sterben sehen.“

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Bei Nacht und Nebel: Chefreporterin Aleksandra Tulej ist gebürtige Polin – das erleichterte die Kommunikation vor Ort. (C)Soza Al Mohammad

HILFE IM UNTERGRUND

Die Stimmung im Grenzgebiet ist angespannt. Wir befinden uns immerhin in Podlasie – der Region Polens, die den höchsten WählerInnenanteil der rechtsnationalen polnischen PiS-Regierungspartei hat. Die Mehrheit der BewohnerInnen hier will keine Geflüchteten aufnehmen, sie sind auch dagegen, die Sperrzone zugänglich zu machen. Sie haben Angst. Einerseits vor einem Ansturm an MigrantInnen, andererseits vor einem Krieg mit Belarus. Wir müssen vorsichtig sein, mit wem wir sprechen. Es kann uns zwar niemand von hier rausschmeißen, aber wir wissen, dass einiges schieflaufen könnte. Immer wieder gibt es hier in der Gegend rechtsnationale Aufmärsche und Berichte von Gewalt gegen Menschen mit nicht weißer Hautfarbe. Polen hat sehr wenige MigrantInnen. Von den 38,5 Millionen EinwohnerInnen sind nur 0,9 Prozent ausländischer Herkunft. Migration und Flüchtlinge werden in Polen im Grundtenor abgelehnt. Dabei geht es in dieser Causa nicht einmal primär um die Aufnahme von Geflüchteten – es soll nur medizinische und humanitäre Hilfeleistung bei ihnen ankommen dürfen. Wir erfahren jedoch, dass es entlang der Sperrzone auch genügend Menschen gibt, die genau das tun – sie helfen, wie und wo es geht; heimlich, im Untergrund. Über Signal und über Mundpropaganda schaffen wir es, Menschen ausfindig zu machen, die privat aktiv Hilfe leisten – und dabei große Risiken eingehen. Nicht wie sie heißen, nicht einmal in welchem Dorf sie genau wohnen, dürfen wir erwähnen. Wir treffen uns mit ihnen im Auto, im Wald und an abgelegenen Orten. Auch wie sie mit den Geflüchteten in Kontakt bleiben, verraten sie uns nicht. Sie alle agieren im Untergrund, wie sie immer wieder betonen. Zu groß ist die Angst, dass jemand ihre Identität erkennen könnte. Nicht nur Behörden, sondern auch die Nachbarn dürfen nichts davon wissen.

ANGST VOR SPITZELN

„Niemand spricht hier öffentlich darüber, dass er Hilfe leistet. Dazu machen VolontärInnen doch die Arbeit, die eigentlich vom Staat oder durch NGOs geleistet werden sollte“, erzählt uns Alicja*. „Wir wollen nur humanitäre Hilfe leisten. Und was passiert: Für viele bin ich hier die Lukaschenko-Schlampe, weil ich für die Aufnahme von Geflüchteten bin. Ich bin sehr vorsichtig, wem ich was erzähle.“ Wir reden mit ihr auf dem Dachboden ihres Hauses, hier sind wir ungestört. „Weißt du, mein Mann kommt aus dem Nahen Osten. Ich habe kleine Kinder, die dunkle Augen und eine dunklere Hautfarbe haben. Meine achtjährige Tochter hat Fotos dieser Kinder im Wald gesehen und gefragt, ob das irgendwelche Verwandten von uns sind.“ Sie muss immer wieder schlucken und beginnt zu weinen. „Sorry, ich muss jetzt eine rauchen“, sagt sie. Sie zieht an ihrer E-Zigarette und erzählt weiter: „Bei Gott, ob Syrien oder Irak, wo aktive Kriege geführt wurden – überall gab es humanitäre Hilfe. Das, was bei uns passiert, geht einfach nicht in meinen Kopf rein.“ „So einen Zustand, dass man Angst vor Spitzeln hat, haben wir das letzte Mal vor 1989, also während des sozialistischen Regimes in Polen gespürt“, erklärt uns Paweł* kopfschüttelnd. Er darf aufgrund seiner Arbeit in die Sperrzone – er hat eine Bewilligung dafür. „Ich plaudere mit den Grenzsoldaten über das Wetter und 50 Meter weiter im Gebüsch verstecken sich zwei Iraker, denen ich gerade Kleidung gebracht habe“, erklärt er nüchtern. „Was wir hier tun, ist grundlegende Hilfeleistung: Wir sammeln Kleidung, Nahrung und Medikamente und bringen sie in die Zone hinein.“ Unter den HelferInnen vor Ort hat sich also eine regelrechte Untergrundorganisation gebildet. Eine wichtige Figur spielt unter ihnen Jagoda*.

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Dieser junge Iraker hielt einen Zettel mit der Aufschrift „I WANT ASYLUM IN POLAND“ hoch, während er in das Militärfahrzeug gesetzt wurde. (C)Lukasz Glowala/Reuters/picturedesk.com

„SIE NENNEN MICH LUKASCHENKOS AGENTIN.“

Jagoda, eine ältere Dame, trifft sich mit uns zu einem Spaziergang im Wald. „Gestern hätte ich noch keine Kraft gehabt, um mit euch zu reden. Jeden Abend schaue ich aus dem Fenster und frage mich, wie schlimm die Nacht für die Menschen dort wird.“ Gleichzeitig muss sie daran denken, wie sie möglichst unauffällig helfen kann. „Ich habe schon gehört, dass ich ‚Lukaschenkos Agentin‘ genannt werde. Es herrscht so viel Misstrauen. Hier passiert etwas, das in einer zivilisierten Welt nicht passieren dürfte - dass Hilfe illegal ist“, sagt sie ruhig. Sie erzählt uns, dass die Bandbreite der Helfenden von StudentInnen bis hin zu PensionistInnen reicht. „Ich koordiniere, wer wann was abholen kommt, was gerade gebraucht wird – jeder hilft, wie er kann.“ Wir erfahren, dass die polnische Bevölkerung stark desinformiert ist – auch wenn viele helfen wollen. Sie spenden Shampoo oder Zahnpasta – dabei haben die Menschen im Wald nicht einmal sauberes Trinkwasser. Jagoda betont, dass sie, so wie die anderen Helfenden, in einer Blase lebe. „Ich muss euch Mädchen schon sagen: Die Mehrheit der Menschen hier besteht aus alteingesessenen Katholiken, die die PiS Partei wählen und die Hilfe für Flüchtlinge entschieden ablehnen“, legt Jagoda ernst dar und fährt fort: „Die Grenzbeamten haben die BewohnerInnen hier in der Gegend informiert, dass sie sie anrufen sollen, wenn sie Flüchtlinge sehen, die es zu uns nach Polen geschafft haben. Ich kenne persönlich einige, die angerufen haben. Als sie dann gesehen haben, wie mit diesen Menschen umgegangen wird, haben sie die Seiten gewechselt und begonnen, uns zu helfen.“

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Polnische Polizeibeamte an der Grenze im Wald. (C)Karol Grygoruk/RATS Agency

„MIR SIND DIESE MENSCHEN IM WALD KOMPLETT EGAL.“

Elżbieta wiederum steht für jene Polen und Polinnen, die Hilfe strikt ablehnen. Wir sprechen sie und ihren Mann auf der Straße an – auf den leer gefegten Straßen Hajnówkas, einer kleinen Ortschaft 25 km von der Sperrzone entfernt. Wir haben Glück – nach vielen gescheiterten Versuchen will doch noch jemand mit uns sprechen. „Mir tun diese Menschen im Wald überhaupt nicht leid. Gar nicht. Die sind mir komplett egal“, betont Elżbieta. „Ich habe selbst sechs Kinder – für mich interessiert sich niemand“, sagt sie in einem sehr sachlichen Ton. „Unser Spital ist voll mit Flüchtlingen. Mein Sohn hat letztens zwei Stunden auf die Rettung gewartet, weil die so beschäftigt damit waren, diese Flüchtlinge zu behandeln. Und wir, was sollen wir tun? Sollen wir hier krepieren?“, fragt sie uns. Das sieht eine andere ältere Frau anders. Auch sie wohnt in Hajnówka. Sie ist tief gläubig, wie sie uns erklärt. „Die Bibel ist die Grundlage unserer Gesellschaft. Und was steht in der Bibel? ‚Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.‘ Das sehe ich hier gerade gar nicht. Ich weiß, wie es ist, Hunger zu haben. Das soll kein Kind mehr erleben – egal ob meine Enkel, die Kinder meiner Nachbarn und schon gar nicht die Kinder im Wald. “ sagt sie mit Tränen in den Augen.

Die Einstellung der Menschen im Grenzgebiet ist gespalten – repräsentativ für das ganze Land. Viele trauen sich auch nicht zuzugeben, auf welcher Seite sie stehen. Das merken wir bei der Gastwirtin, bei der wir wohnen. Sie redet zuerst nur über das Wetter und die schönen Radwege mit uns. Nachdem wir ihr vorsichtig klar machen, warum wir hier sind, erklärt sie uns, dass auch sie jemanden kennt, der„in den Wald fährt“. So wird die Hilfeleistung im örtlichen Jargon beschrieben. Wir konnten ihr Kleidung für Flüchtlinge geben, die ihr Kontaktmann dann in die Sperrzone schmuggeln würde. Auch ein Taxifahrer unterhält sich mit uns zuerst über die Bisons, die in der Gegend hier frei herumlaufen – unsere Kamera ist aber schwer zu verstecken. Er erzählt,dass er schon oft von Schleppern mit der Frage kontaktiert worden wäre, ob ernicht für ein paar tausend Euro Flüchtlinge aus dem Grenzgebiet fahren wolle. Er habe aber abgelehnt – er möchte nichts Illegales machen. „Habt ihr gehört, dass gestern von einem Krankenwagen (Anm.: der NGO Medycy Na Granicy), der im Wald stand, die Reifen zerstochen worden sind? So eine Sauerei! Man muss sich ja nicht selber in Gefahr begeben – aber die noch daran zu hindern? Wo gibt’s denn sowas?“, fragt er uns. Als wir mit ihm an einer Polizeikontrolle vorbeifahren, sagt er nur: „Keine Sorge. Ich kenne diese Polizisten hier in der Gegend gut. Nicht jeder von ihnen ist so, wie es auf den ersten Blick scheint.“ Die Polizisten winken uns durch.

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Die geflüchteten Menschen harren teilweise wochenlang versteckt in den Wäldern aus. (C)Karol Grygoruk/RATS Agency

„ICH WACHE NACHTS AUF UND SCHREIE.“

Wir wollen selbst erfahren, was „nicht so, wie es auf den ersten Blick scheint“ heißt. Offiziell werden wir nichts rausfinden, das ist uns klar. Deshalb beschließen wir, uns in eine versiffte Polizeikneipe im Ort zu setzen – den Tipp bekommen wir von einem älteren Aktivisten hier. Wir bestellen uns ein kleines Bier und führen seichten Smalltalk. Es riecht nach Alkohol. Außer uns sind hier nur betrunkene Männer – vor der Tür stehen rund zwanzig Polizei-Autos. Als wir sie nach einem Feuerzeug fragen, bekommen wir ein paar miese Flirt-Sprüche zu hören – bis einer plötzlich beginnt, sich bei seinem Kollegen aufzuregen. „Kurwa! (poln. Kraftausdruck) Dieser verfickte dreckige Flüchtling von vorgestern, der hatte ein iPhone, hast ja gesehen. Und wer gibt mir ein iPhone? Wer?“ Dass die Stimmung zwischen den Beamten genauso gespalten ist wie in ganz Polen, merken wir, als wir über Tinder mit einem 19-jährigen Soldaten in der Sperrzone ins Gespräch kommen. Bartek* glaubt genau wie Łukasz, dass er mit einer Warschauer Kindergärtnerin schreibt. „Weißt du, ich wache nachts auf und schreie. Ich werde jetzt in Krankenstand gehen. Ich bin nicht für so etwas Soldat geworden.“

 

*Die Namen wurden zum Schutz der Personen von der Redaktion geändert

 

Polen/Belarus
Ein polnischer Grenzschutz-Soldat. (C)Sergei Bobylev/TASS/picturedesk.com

HARD FACTS

WORUM GEHT ES IN DEM KONFLIKT DER EU GEGEN BELARUS?

Der belarussische Machthaber Alexandr Lukaschenko soll Flüchtlinge mit Charterflügen nach Minsk gelockt haben – mit einem Touristenvisum. Die EU wirft Lukaschenko vor, die Menschen gezielt ins Land zu holen und an die EU-Außengrenze zu schleusen, um den Migrationsdruck auf Europa zu erhöhen und sich auf diese Art für die Sanktionen gegen sein autoritäres Regime zu rächen. Polen lässt diese Menschen nicht rein – es kommt zu häufigen Pushbacks – das heißt, die Menschen werden ohne eine Chance auf ein Asylverfahren wieder auf die belarussische Seite im Wald gebracht. Die EU bietet Polen an, bei der Registrierung von Geflüchteten zu helfen – das müsste das Land aber selbst ansuchen.

WARUM FLIEHEN DIESE MENSCHEN?

Die wirtschaftliche und politische Situation in Syrien, Irak und Afghanistan ist katastrophal. Viele Menschen werden in ihrer Heimat verfolgt oder erleben Krieg, Gewalt und Hunger. Sie wollen in Europa um Asyl ansuchen. Niemand nimmt diese Reise einfach so auf sich.

WARUM ÜBER DIESE ROUTE?

Private Reisebüros in der Türkei, dem Libanon und dem Irak, sowie private und staatliche Reiseunternehmen aus Belarus bewerben die Reise als touristisches Angebot auf ihren Webseiten und Sozialen Netzwerken. Das ist scheinbar eine Strategie der belarussischen Regierung, die im Mai angekündigt hatte, keine MigrantInnen mehr aufzuhalten, die in die EU einreisen wollen. Jetzt werden übrigens immer mehr Menschen wieder zurück in ihre Heimatländer geflogen.

WIE VIEL KOSTET DER FLUCHTWEG?

Gesamt kann die Flucht Schätzungen zufolge zwischen 4000 $ - 6000 $ kosten, einschließlich Visa, Flüge und Schleuserdienste auf dem Landweg nach Europa.

WARUM HABEN GEFLÜCHTETE SMARTPHONES?

Das häufige Argument von Flüchtlingsgegnern: Wie kann es sein, dass diese Menschen teure Smartphones besitzen? Erstens ist ein Smartphone heutzutage kein Luxusgegenstand mehr, vor allem auf der Flucht. Es dient als GPS, zur Kommunikation und allgemein zum Überleben. Zweitens – im Nahen Osten und in Afrika werden oft gebrauchte Geräte (z.B. aus den USA) günstig verkauft. Drittens: Siehe vorherige Frage. Wer sich die Flucht leisten kann, kann sich auch ein Smartphone leisten.

WIE IST DAS IN DER EU MÖGLICH?

Sowohl das EU-Recht als auch die europäische Menschenrechtskonvention verbieten Pushbacks. Das bedeutet, jemanden ohne ein Asylverfahren wieder zurückzuschicken, bricht geltendes europäisches Recht. Mitte Oktober hat das polnische Parlament einer Gesetzesänderung zugestimmt, laut der Grenzschutzkommandeure die Geflüchteten nun sofort des Landes verweisen dürfen. Wenn jemand um Asyl bittet, darf er das zwar offiziell nach wie vor tun. Diese Asylgesuche werden in der Praxis von den Grenzschützern oft „überhört“ und so können die Menschen dennoch abgewiesen werden. Die EU-Staaten sind selbst für den Grenzschutz zuständig. Die EU-Kommission hat nach eigener Aussage Polen bereits mehrfach ermuntert, Hilfe anzunehmen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex, die Asylbehörde EASO und die Polizeibehörde Europol stünden bereit, bei der Registrierung von Geflüchteten, der Bearbeitung von Asylgesuchen und dem Kampf gegen Schmuggel zu helfen, Polen müsse diese Hilfe jedoch wie gesagt anfordern. Dies ist bisher nicht erfolgt. Man hört seitens der EU viel über Sanktionen gegenüber Lukaschenko, in der Causa Polen wird aber geschwiegen.

 

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