Diskussionskultur - schon mal gehört?

23. November 2015

Es ist fast nicht mehr auszuhalten. Ich habe Kopfschmerzen und weiß überhaupt nicht mehr, in welche Richtung ich denken soll. Ich kenne vor allem keine Lösung. Ich weiß nicht, was jetzt richtig und was falsch ist. Warum sind plötzlich alle um mich herum zu Richtern und Richtenden geworden, die so klar zwischen schwarz und weiß, richtig und falsch, rechts und links unterscheiden können? Oder liegt die Lösung am Ende irgendwo dazwischen?

Seit den schrecklichen Anschlägen in Paris toben die Debatten nicht nur in den sozialen Netzwerken. Fronten prallen aufeinander und alle, die zwischen ihnen stehen, geraten unweigerlich in die Schusslinie. Sachlichkeit bleibt dabei auf der Strecke, Selbstinszenierung ist das Gebot der Stunde – schließlich weiß jeder immer irgendwas irgendwie besser.

1. Wo bleibt euer Mitgefühl – jedes Menschenleben zählt!

Unglaublich aber wahr, es wurde sich sogar darüber gestritten, wie sehr und in welcher Art man seine Betroffenheit über die Pariser Anschläge zum Ausdruck bringen darf. Vorwurfsvolle Stimmen erinnerten daran, dass überall auf der Welt Terroranschläge passieren und dass es heuchlerisch sei, den Opfern in Paris nun mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Zählt nicht jedes Menschenleben gleich viel? Natürlich zählt jedes Menschenleben gleich viel! Deshalb aber meine Gegenfrage an all die kritischen Geister: Was habt ihr denn bisher getan? In welcher Form habt ihr denn der Opfer von Ankara, Beirut oder Nigeria gedacht? Was habt ihr getan, um sie ins Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit zu rücken, und sei es nur durch ein Facebook-Posting? Traurigerweise bieten sich ja viele Gelegenheiten, Bewusstseinsarbeit zu leisten, aber jetzt plötzlich mal eben so den kritischen Zeigefinger zu erheben und auf weltoffen zu machen ist schon sehr dürftig. Kein Statement zu setzen ist nicht besser als ein geheucheltes zu setzen. Sonst ist die Aussage, die man eigentlich trifft, nämlich, dass jedes Menschenleben gleich wenig zählt.

2. Ist der Islam eigentlich gefährlich?

Diese Diskussion ist nicht wirklich neu, aber natürlich jetzt aktueller und emotionaler denn je. Durch die Terroranschläge fühlen sich nicht nur all jene bestätigt, die den Islam schon vorher kritisiert hatten, sondern auch sämtliche Religionskritiker und Atheisten, für die nun einmal mehr der Beweis angetreten ist, dass Religionen allgemein und der Islam im Besonderen nur Gewalt verbreiten. Eine zermürbende Grundsatzdiskussion, die keinen Anfang und kein Ende hat. Ist es denn tatsächlich nicht möglich, Religionen kritisch gegenüber zu stehen und trotzdem nicht jeden als dämlich oder potenziell gewaltbereit abzustempeln, der doch an Gott oder Allah glaubt? Scheinbar nicht. Lieber wirft man mit irgendwelchen Terrorstatistiken um sich und untermauert das Ganze mit völlig aus dem Zusammenhang gerissenen, wörtlich verstandenen Koranzitaten. Respekt auch! Ich persönlich kann da nur staunen, wie viele Islamexperten auf einmal aus dem Boden sprießen. Ich meine, es ist zwar so, dass Islamwissenschaftler sich über die Auslegung des Korans uneins sind, aber der Josef aus dem Burgenland und die Maria aus der Steiermark haben verstanden, wie’s geht. Koranzitate hagelt’s aber auch auf der anderen Seite, im Team Islam, wo man in Verteidigungshaltung die Friedlichkeit des eigenen Glaubens stets beteuern muss. Wie beleidigend. Sie, die europäischen Muslime (und übrigens auch die, die es noch werden wollen) sind Schlüsselfiguren im Kampf gegen den Terror. Vielleicht wäre es ganz günstig, mal die eigenen Vorbehalte gegenüber Religionen und dem Islam beiseitezuschieben, und ihnen die Hände zu reichen, anstatt mit dem Finger auf sie zu zeigen?

3. Freiheit oder Sicherheit?

Diese Frage scheint eher nur eine Randnotiz zu sein, während man sich noch über die Farben der Profilbilder zofft. Dabei ist sie doch eine der grundlegendsten Auseinandersetzungen. Wie viel Freiheit sind wir bereit, zugunsten der Sicherheit aufs Spiel zu setzen? Wie viel Sicherheit braucht es, um unsere Freiheiten zu sichern? Bedeutet das nun aber, dass wir uns hermetisch abriegeln sollen? Wie gehen wir mit sogenannten „Rückkehrern“ um? Lässt der Terror sich durch verschärfte Sicherheitsmaßnahmen an den Außengrenzen aufhalten, oder ist er sowieso schon da, mitten unter uns? Gibt es eine einzig richtige Antwort auf all diese Fragen? Wahrscheinlich nicht. Ich persönlich finde es nur wichtig, dass diese Fragen als Fragen gestellt werden, besonders jetzt, wo alle immer so wahnsinnig viele Antworten parat haben, dabei leider aber das Wesentliche vergessen.

Und wozu das Ganze?

Denn was haben uns die ganzen Diskussionen und Beleidigungen nun eigentlich gebracht? Nichts. Keinen Schritt haben sie uns weitergebracht.  Wir müssen uns ja keineswegs alle in allem einig sein, aber es wäre besser, wenn wir uns zumindest darin einig wären, dass es vollkommen in Ordnung ist, sich nicht einig zu sein. Gerade die Fähigkeit zur Diversität und zum Dissens macht unsere Gesellschaft aus. Das ist natürlich eine dauernde Herausforderung, die nun auf eine harte Probe gestellt wird. Indem wir uns mit einer derartigen Engstirnigkeit gegenseitig dauernd befetzen, lassen wir aber einen Dominoeffekt zu, in welchem unsere vielgerühmten Grundwerte (ich kann es schon nicht mehr hören) niedergerissen werden. Wäre es nicht denkbar, die eigene Meinung zu vertreten und das jeweils andere trotzdem auch gelten zu lassen? Denn: Wenn sich zwei streiten, dann freut sich der Dritte. Und wer auch immer dieser Dritte ist, ich bin mir ziemlich sicher, dass wir nicht möchten, dass er sich freut.

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