Zwischen Wahrheit und Wunschvorstellungen

04. August 2021

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Nada El-Azar
(C)Zoe Opratko

Inklusive Sprache ist lange kein Nischenthema mehr. Ist sie jedoch überall angebracht? Wenn Pilger:innen nach Mekka fahren und Extremist*innen von der Islamlandkarte profitieren.

von Nada El-Azar

Jüngst sah ich jedoch auf einem Facebookposting der deutschen Tagesschau folgende Schlagzeile:

„Tausende Pilger:innen in Mekka zur zweiten Hadsch in Saudi-Arabien unter Corona-Bedingungen“

Den Fehler gefunden? Vielleicht irre ich mich, aber ich bezweifle zutiefst, dass Personen, die sich nicht eindeutig mit ihrem Geburtsgeschlecht identifizieren, ohne Weiteres zur Pilgerfahrt nach Saudi-Arabien reisen würden. Dass in diesem Fall, mutmaßlich durch einen Redakteur oder Redakteurin, eine Sprache verwendet wurde, die anderweitiges impliziert, ist in meinen Augen eine Verfälschung der Nachricht und spiegelt nicht die Realität wider. Man kann es drehen und wenden, wie man will. Fakt ist, dass in mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern – oder gar in Ländern, in denen die Scharia gilt – geschlechtliche Vielfalt abseits der Kategorien (Cis-)Mann und (Cis-)Frau nicht akzeptiert ist, und vielerorts sogar mit hohen Strafen geahndet werden. Selbst im Iran, wo sogar Geschlechtsangleichungen unter Umständen durchaus möglich sind, wurde im Mai der Homosexuelle Alireza Fazeli Monfared von mehreren männlichen Verwandten entführt und brutal ermordet. Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International, bezeichnete den Mord an Monfared als „tragische Folge der staatlich geförderten Homophobie“ im Iran.

Geschlechtliche Vielfalt in der Community kaum akzeptiert

Und auch in der Diaspora ist Homo- und Transsexualität unumstritten ein großes Tabu. Das bezeugen auch immer wieder Vorfälle von Angriffen auf homosexuelle Pärchen, wie die Messerattacke auf ein schwules Paar durch einen Syrer in Dresden im Oktober vergangenen Jahres. Der Täter empfand Homosexualität als Sünde. Auch Übergriffe auf Homosexuelle im stark arabisch-muslimisch geprägten Berlin-Neukölln. Eine meiner Freundinnen sagte mir jüngst, dass sie sich niemals trauen würde mit ihrer Partnerin händchenhaltend durch Wien-Favoriten zu spazieren. Zu viele Probleme werden unter den Teppich gekehrt, zugunsten einer – momentan leider noch utopisch anmutenden – Wunschvorstellung einer Akzeptanz von geschlechtlicher Vielfalt oder nicht-normativen Kategorien sexueller Orientierungen innerhalb der muslimischen Community.

In vielen linksliberalen, vor allem auf eine junge Zielgruppe ausgerichtete Medien wie die Zett oder Jetzt verwenden viele AutorInnen selbstverständlich aus Überzeugung eine inklusive Sprache (beispielsweise die Form Muslim*innen) in Zusammenhängen mit islamischen Feiertagen oder der Pilgerfahrt, hinterfragen jedoch nicht häufig genug die Lebensrealitäten für Menschen aus konservativ-muslimischen Communitys, die sich etwa als non-binär oder transsexuell fühlen, oder eben einfach nicht heterosexuell sind. In einem Beitrag zum Thema Islamlandkarte, der in der ZEIT erschienen ist, verwendete ein Politologe sogar die Form „Extremist*innen“, die von der Karte profitieren würden. Meiner Meinung nach ist das Sternchen hier aus leicht abschätzbaren Gründen wieder fehl am Platz.

Die Sprache gibt auch eine Linie vor

Geschlechtergerechte Sprache ist schon lange kein Nischenthema mehr und hält immer weiter Einzug in die „Codes of Conduct“ und Corporate Identities vieler Unternehmen und Institutionen. Von politischen Ansprachen, über akademische Publikationen, bis hin zu Werbungen und Aussendungen ist zumindest ein gendern mit Binnen-I, oder, noch inklusiver, mit Gendersternchen, Unterstrich, beziehungsweise Doppelpunkt (z.B.: Kund:innen) nicht selten im Alltag anzutreffen. Auch in größeren Medienhäusern scheint man sich auf das zumindest eine der Varianten geeinigt zu haben, die eine gewisse Blattlinie ebenfalls kolportiert.

Es mag natürlich sein, dass so ein Facebookposting wie jenes der Tagesschau nach den intern festgelegten Standards der Redaktion leichtfertig publiziert wurde. Jedoch empfiehlt es sich trotzdem, zwei Mal hinzuschauen und nicht alles mit einem Regenbogen-Lack zu überziehen, damit bloß keiner sich ausgeschlossen oder nicht mitgemeint fühle. Dort, wo es passt, soll gegendert werden. Als Gegenvergleich: Die Muslimische Jugend Österreich (MJÖ), die sich sonst auch sehr weltoffen und sozial engagiert zeigt, gendert nie mit Sternchen oder Doppelpunkt, welche alle Personen des Spektrums miteinbeziehen würde. Auf meine Anfrage, warum dies so sei, entgegnete man mir, dass derweil nur mit Binnen-I gegendert werden würde und man sich zu keiner Änderung dieser Schreibweise entschieden hätte. Auch bei größeren Vertretungen wie der IGGÖ oder sonstigen muslimische Zentralräten in Europa trifft man keine inklusive Sprache an. Keiner dieser Organisationen bekennt sich offen zu den Rechten von Menschen der LGBTQIA+ Community, weil jene Menschen, die solche Rechte für sich wollen, schlichtweg kein Teil ihrer gläubigen Community sind, beziehungsweise scheinbar nicht so von den Vertretungen wahrgenommen werden. Daher werden sie auch sprachlich nicht adressiert.

Übrigens gab aus auch in der biber-Redaktion interne Besprechungen zum Thema geschlechtergerechter Sprache. Bei uns einigte man sich darauf, dass alle RedakteurInnen individuell nach ihrem eigenen Ermessen Gendern können. Dabei sind neben der Logik natürlich auch Zeichenanzahl und Lesefluss wichtige Faktoren, die oftmals von Menschen, die beruflich nicht schreiben, vergessen werden. Diese Lösung empfinde ich persönlich als die Beste, da sie die Realität nicht trübt.

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